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Fouqué, Caroline de La Motte-: Ueber deutsche Geselligkeit. Berlin, 1814.

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man die Luft eines Landes geathmet, in seiner
Sprache gedacht, genossen und gelitten haben."]
Wie denn wagte sie, das größte Gedicht was
es giebt, die Gemüths- und Bildungsgeschichte,
die Jndividualität und Charakteristik eines Volkes
in fremder Seele nachzuerfinden?

Unter Tausenden ward vielleicht Schakspear
allein so großer Offenbarungen gewürdigt, daß er
Römernaturen erschaffen durfte. Die Poesie dul-
dete dies Wagniß. Anders aber ist es mit der
Kritik, und Niemand denke ich, wird heut zu
Tage noch Charakteristiken und Kritiken der Grie-
chen und Römer schreiben.

Man wird mir einwenden, Frau von Stael
stehe gar nicht in einem so getrennten Verhältniß
zu Deutschland, sie habe es von West nach Ost
durchreis't, darin gelebt, Natur und Menschen be-
obachtet, die zartesten Bande der Poesie und Freund-
schaft halten sie mit dessen lebendigen Daseyn ver-
bunden, sie kenne die Sprache und lese gern und
viel in derselben. Jch aber erwiedere hierauf: Frau

man die Luft eines Landes geathmet, in ſeiner
Sprache gedacht, genoſſen und gelitten haben.”]
Wie denn wagte ſie, das groͤßte Gedicht was
es giebt, die Gemuͤths- und Bildungsgeſchichte,
die Jndividualitaͤt und Charakteriſtik eines Volkes
in fremder Seele nachzuerfinden?

Unter Tauſenden ward vielleicht Schakſpear
allein ſo großer Offenbarungen gewuͤrdigt, daß er
Roͤmernaturen erſchaffen durfte. Die Poeſie dul-
dete dies Wagniß. Anders aber iſt es mit der
Kritik, und Niemand denke ich, wird heut zu
Tage noch Charakteriſtiken und Kritiken der Grie-
chen und Roͤmer ſchreiben.

Man wird mir einwenden, Frau von Stael
ſtehe gar nicht in einem ſo getrennten Verhaͤltniß
zu Deutſchland, ſie habe es von Weſt nach Oſt
durchreiſ’t, darin gelebt, Natur und Menſchen be-
obachtet, die zarteſten Bande der Poeſie und Freund-
ſchaft halten ſie mit deſſen lebendigen Daſeyn ver-
bunden, ſie kenne die Sprache und leſe gern und
viel in derſelben. Jch aber erwiedere hierauf: Frau

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[10/0012] man die Luft eines Landes geathmet, in ſeiner Sprache gedacht, genoſſen und gelitten haben.”] Wie denn wagte ſie, das groͤßte Gedicht was es giebt, die Gemuͤths- und Bildungsgeſchichte, die Jndividualitaͤt und Charakteriſtik eines Volkes in fremder Seele nachzuerfinden? Unter Tauſenden ward vielleicht Schakſpear allein ſo großer Offenbarungen gewuͤrdigt, daß er Roͤmernaturen erſchaffen durfte. Die Poeſie dul- dete dies Wagniß. Anders aber iſt es mit der Kritik, und Niemand denke ich, wird heut zu Tage noch Charakteriſtiken und Kritiken der Grie- chen und Roͤmer ſchreiben. Man wird mir einwenden, Frau von Stael ſtehe gar nicht in einem ſo getrennten Verhaͤltniß zu Deutſchland, ſie habe es von Weſt nach Oſt durchreiſ’t, darin gelebt, Natur und Menſchen be- obachtet, die zarteſten Bande der Poeſie und Freund- ſchaft halten ſie mit deſſen lebendigen Daſeyn ver- bunden, ſie kenne die Sprache und leſe gern und viel in derſelben. Jch aber erwiedere hierauf: Frau

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Zitationshilfe: Fouqué, Caroline de La Motte-: Ueber deutsche Geselligkeit. Berlin, 1814, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fouque_geselligkeit_1814/12>, abgerufen am 29.03.2024.