Fluß sich anmuthig wand, und die weniger romantische Region, in welcher ich mich seit zwei Tagen bewegte, hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der goldenen Kutsche, heimelte sie mich an wie die in¬ teressanteste auf dem Erdenrund; der ruhige, breite Wasserspiegel imponirte mir und ich schlürfte mit Be¬ hagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durch¬ aus nicht gespürt hatte. Es war ja Reckenburg'scher Stammgrund, dem das Arom entströmte!
Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der Lichtung, die für den neuen Herrensitz geschlagen wor¬ den war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück vom Walde verhüllt, denn ihre Armseligkeit würde mein stolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt haben. Es temperirte sich bereits, als wir, nahe dem Eingangsgitter, auf eine Gruppe zerlumpter, verküm¬ merter Gestalten stießen, die zu mir gleich einem Meer¬ wunder in die Höhe starrten. Ich hielt sie für Bettler, die ich von jeher, als Faullenzer, verachtet und mit Widerwillen gemieden hatte. Muhme Justine belehrte mich indessen anderen Tags, daß es die Bauern und Fröhner des Dorfes gewesen seien, welche das seit einem Menschenalter nicht mehr geschaute "Böse Ding" der goldnen Kutsche herbeigelockt hatte.
12 *
Fluß ſich anmuthig wand, und die weniger romantiſche Region, in welcher ich mich ſeit zwei Tagen bewegte, hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der goldenen Kutſche, heimelte ſie mich an wie die in¬ tereſſanteſte auf dem Erdenrund; der ruhige, breite Waſſerſpiegel imponirte mir und ich ſchlürfte mit Be¬ hagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durch¬ aus nicht geſpürt hatte. Es war ja Reckenburg'ſcher Stammgrund, dem das Arom entſtrömte!
Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der Lichtung, die für den neuen Herrenſitz geſchlagen wor¬ den war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück vom Walde verhüllt, denn ihre Armſeligkeit würde mein ſtolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt haben. Es temperirte ſich bereits, als wir, nahe dem Eingangsgitter, auf eine Gruppe zerlumpter, verküm¬ merter Geſtalten ſtießen, die zu mir gleich einem Meer¬ wunder in die Höhe ſtarrten. Ich hielt ſie für Bettler, die ich von jeher, als Faullenzer, verachtet und mit Widerwillen gemieden hatte. Muhme Juſtine belehrte mich indeſſen anderen Tags, daß es die Bauern und Fröhner des Dorfes geweſen ſeien, welche das ſeit einem Menſchenalter nicht mehr geſchaute „Böſe Ding“ der goldnen Kutſche herbeigelockt hatte.
12 *
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0186"n="179"/>
Fluß ſich anmuthig wand, und die weniger romantiſche<lb/>
Region, in welcher ich mich ſeit zwei Tagen bewegte,<lb/>
hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der<lb/>
goldenen Kutſche, heimelte ſie mich an wie die in¬<lb/>
tereſſanteſte auf dem Erdenrund; der ruhige, breite<lb/>
Waſſerſpiegel imponirte mir und ich ſchlürfte mit Be¬<lb/>
hagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durch¬<lb/>
aus nicht geſpürt hatte. Es war ja Reckenburg'ſcher<lb/>
Stammgrund, dem das Arom entſtrömte!</p><lb/><p>Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der<lb/>
Lichtung, die für den neuen Herrenſitz geſchlagen wor¬<lb/>
den war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück<lb/>
vom Walde verhüllt, denn ihre Armſeligkeit würde<lb/>
mein ſtolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt<lb/>
haben. Es temperirte ſich bereits, als wir, nahe dem<lb/>
Eingangsgitter, auf eine Gruppe zerlumpter, verküm¬<lb/>
merter Geſtalten ſtießen, die zu mir gleich einem Meer¬<lb/>
wunder in die Höhe ſtarrten. Ich hielt ſie für Bettler,<lb/>
die ich von jeher, als Faullenzer, verachtet und mit<lb/>
Widerwillen gemieden hatte. Muhme Juſtine belehrte<lb/>
mich indeſſen anderen Tags, daß es die Bauern und<lb/>
Fröhner des Dorfes geweſen ſeien, welche das ſeit<lb/>
einem Menſchenalter nicht mehr geſchaute „Böſe Ding“<lb/>
der goldnen Kutſche herbeigelockt hatte.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">12 *<lb/></fw></div></body></text></TEI>
[179/0186]
Fluß ſich anmuthig wand, und die weniger romantiſche
Region, in welcher ich mich ſeit zwei Tagen bewegte,
hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der
goldenen Kutſche, heimelte ſie mich an wie die in¬
tereſſanteſte auf dem Erdenrund; der ruhige, breite
Waſſerſpiegel imponirte mir und ich ſchlürfte mit Be¬
hagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durch¬
aus nicht geſpürt hatte. Es war ja Reckenburg'ſcher
Stammgrund, dem das Arom entſtrömte!
Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der
Lichtung, die für den neuen Herrenſitz geſchlagen wor¬
den war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück
vom Walde verhüllt, denn ihre Armſeligkeit würde
mein ſtolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt
haben. Es temperirte ſich bereits, als wir, nahe dem
Eingangsgitter, auf eine Gruppe zerlumpter, verküm¬
merter Geſtalten ſtießen, die zu mir gleich einem Meer¬
wunder in die Höhe ſtarrten. Ich hielt ſie für Bettler,
die ich von jeher, als Faullenzer, verachtet und mit
Widerwillen gemieden hatte. Muhme Juſtine belehrte
mich indeſſen anderen Tags, daß es die Bauern und
Fröhner des Dorfes geweſen ſeien, welche das ſeit
einem Menſchenalter nicht mehr geſchaute „Böſe Ding“
der goldnen Kutſche herbeigelockt hatte.
12 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/186>, abgerufen am 29.03.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.