Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der Arzt ihr diese Verordnung gab: Das wird gewiss auch nichts nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineralwässer ungezählte Male wiederholt.

Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht 8 Tage lang aus, sondern ass und trank schon am nächsten Tag ohne alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Brief: "Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem Wasser habe ich schon 40 Flaschen getrunken. Glauben Sie, soll ich damit fortfahren?"

Ich sah Frau v. N. . im Frühjahr des nächsten Jahres auf ihrem Gute bei D . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen sie während der "Stürme im Kopf" zu rufen pflegte, trat um diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Missverhältniss zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmässig und selbst gewaltthätig gegen die Mutter. Ich besass noch das Vertrauen der letzteren und wurde hinbeschieden, um mein Urtheil über den Zustand des jungen Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorgegangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die Thatsache in Anschlag zu bringen, dass sämmtliche Halbgeschwister der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . aus erster Ehe) an Paranoia zu Grunde gegangen waren. In der Familie der Mutter fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maass von neuropathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandtenkreis kein Mitglied in endgiltige Psychose verfallen war. Frau v. N. ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rückhalt ertheilte, benahm sich dabei ruhig und verständnissvoll. Sie war stark geworden, sah blühend aus, die 3/4 Jahre seit Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohlbefinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen. Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die Dame zu klagen hatte; sie war also mit der "profession" einigermaassen ausgesöhnt.

Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger geworden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz

besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der Arzt ihr diese Verordnung gab: Das wird gewiss auch nichts nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineralwässer ungezählte Male wiederholt.

Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht 8 Tage lang aus, sondern ass und trank schon am nächsten Tag ohne alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Brief: „Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem Wasser habe ich schon 40 Flaschen getrunken. Glauben Sie, soll ich damit fortfahren?“

Ich sah Frau v. N. . im Frühjahr des nächsten Jahres auf ihrem Gute bei D . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen sie während der „Stürme im Kopf“ zu rufen pflegte, trat um diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Missverhältniss zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmässig und selbst gewaltthätig gegen die Mutter. Ich besass noch das Vertrauen der letzteren und wurde hinbeschieden, um mein Urtheil über den Zustand des jungen Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorgegangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die Thatsache in Anschlag zu bringen, dass sämmtliche Halbgeschwister der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . aus erster Ehe) an Paranoia zu Grunde gegangen waren. In der Familie der Mutter fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maass von neuropathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandtenkreis kein Mitglied in endgiltige Psychose verfallen war. Frau v. N. ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rückhalt ertheilte, benahm sich dabei ruhig und verständnissvoll. Sie war stark geworden, sah blühend aus, die ¾ Jahre seit Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohlbefinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen. Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die Dame zu klagen hatte; sie war also mit der „profession“ einigermaassen ausgesöhnt.

Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger geworden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0076" n="70"/>
besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der Arzt ihr diese Verordnung gab: Das wird gewiss auch nichts nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineralwässer ungezählte Male wiederholt.</p>
          <p>Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht 8 Tage lang aus, sondern ass und trank schon am nächsten Tag ohne alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Brief: &#x201E;Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem Wasser habe ich schon 40 Flaschen getrunken. Glauben Sie, soll ich damit fortfahren?&#x201C;</p>
          <p>Ich sah Frau v. N. . im Frühjahr des nächsten Jahres auf ihrem Gute bei D . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen sie während der &#x201E;Stürme im Kopf&#x201C; zu rufen pflegte, trat um diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Missverhältniss zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmässig und selbst gewaltthätig gegen die Mutter. Ich besass noch das Vertrauen der letzteren und wurde hinbeschieden, um mein Urtheil über den Zustand des jungen Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorgegangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die Thatsache in Anschlag zu bringen, dass sämmtliche Halbgeschwister der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . aus erster Ehe) an Paranoia zu Grunde gegangen waren. In der Familie der Mutter fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maass von neuropathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandtenkreis kein Mitglied in endgiltige Psychose verfallen war. Frau v. N. ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rückhalt ertheilte, benahm sich dabei ruhig und verständnissvoll. Sie war stark geworden, sah blühend aus, die ¾ Jahre seit Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohlbefinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen. Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die Dame zu klagen hatte; sie war also mit der &#x201E;profession&#x201C; einigermaassen ausgesöhnt.</p>
          <p>Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger geworden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0076] besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der Arzt ihr diese Verordnung gab: Das wird gewiss auch nichts nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineralwässer ungezählte Male wiederholt. Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht 8 Tage lang aus, sondern ass und trank schon am nächsten Tag ohne alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Brief: „Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem Wasser habe ich schon 40 Flaschen getrunken. Glauben Sie, soll ich damit fortfahren?“ Ich sah Frau v. N. . im Frühjahr des nächsten Jahres auf ihrem Gute bei D . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen sie während der „Stürme im Kopf“ zu rufen pflegte, trat um diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Missverhältniss zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmässig und selbst gewaltthätig gegen die Mutter. Ich besass noch das Vertrauen der letzteren und wurde hinbeschieden, um mein Urtheil über den Zustand des jungen Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorgegangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die Thatsache in Anschlag zu bringen, dass sämmtliche Halbgeschwister der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . aus erster Ehe) an Paranoia zu Grunde gegangen waren. In der Familie der Mutter fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maass von neuropathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandtenkreis kein Mitglied in endgiltige Psychose verfallen war. Frau v. N. ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rückhalt ertheilte, benahm sich dabei ruhig und verständnissvoll. Sie war stark geworden, sah blühend aus, die ¾ Jahre seit Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohlbefinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen. Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die Dame zu klagen hatte; sie war also mit der „profession“ einigermaassen ausgesöhnt. Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger geworden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/76
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/76>, abgerufen am 24.04.2024.