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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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worden, so die Furcht vor Kröten durch den Eindruck in früher Jugend, als ihr ein Bruder eine todte Kröte nachwarf, worauf sie den Anfall hysterischer Zuckungen bekam; die Gewitterfurcht durch jenen Schreck, der zur Entstehung des Schnalzens Anlass gab; die Furcht vor Nebel durch jenen Spaziergang auf Rügen; immerhin spielt in dieser Gruppe die primäre, sozusagen instinctive Furcht, als psychisches Stigma genommen, die Hauptrolle.

Die anderen und specielleren Phobien sind auch durch besondere Erlebnisse gerechtfertigt. Die Furcht vor einem unerwarteten, plötzlichen Schreckniss ist das Ergebniss jenes schrecklichsten Eindrucks in ihrem Leben, als sie ihren Mann mitten aus bester Gesundheit an einem Herzschlag verscheiden sah. Die Furcht vor fremden Menschen, die Menschenfurcht überhaupt, erweist sich als Rest aus jener Zeit, in der sie den Verfolgungen ihrer Familie ausgesetzt und geneigt war, in jedem Fremden einen Agenten der Verwandtschaft zu sehen, oder in der ihr der Gedanke nahe lag, die Fremden wüssten um die Dinge, die mündlich und schriftlich über sie verbreitet wurden. Die Angst vor dem Irrenhause und dessen Einwohnern geht auf eine ganze Reihe von traurigen Erlebnissen in ihrer Familie und auf Schilderungen zurück, die dem horchenden Kinde eine dumme Dienstmagd machte, ausserdem stützt sich diese Phobie einerseits auf das primäre, instinctive Grauen des Gesunden vor dem Wahnsinn, andererseits auf die wie bei jedem Nervösen so auch bei ihr vorhandene Sorge, selbst dem Wahnsinn zu verfallen. Eine so specialisirte Angst wie die, dass jemand hinter ihr stünde, wird durch mehrere schreckhafte Eindrücke aus ihrer Jugend und aus späterer Zeit motivirt. Seit einem ihr besonders peinlichen Erlebniss im Hotel, peinlich, weil es mit Erotik verknüpft ist, wird die Angst vor dem Einschleichen einer fremden Person besonders hervorgehoben; endlich eine den Neuropathen so häufig eigene Phobie, die vor dem Lebendigbegrabenwerden, findet ihre volle Aufklärung in dem Glauben, dass ihr Mann nicht todt war, als man seine Leiche forttrug, einem Glauben, in dem sich die Unfähigkeit so rührend äussert, sich in das plötzliche Aufhören der Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen zu finden. Ich meine übrigens, dass alle diese physischen Momente nur die Auswahl, aber nicht die Fortdauer der Phobien erklären können. Für letztere muss ich ein neurotisches Moment heranziehen, den Umstand nämlich, dass die Patientin sich seit Jahren in sexueller Abstinenz befand, womit einer der häufigsten Anlässe zur Angstneigung gegeben ist.

worden, so die Furcht vor Kröten durch den Eindruck in früher Jugend, als ihr ein Bruder eine todte Kröte nachwarf, worauf sie den Anfall hysterischer Zuckungen bekam; die Gewitterfurcht durch jenen Schreck, der zur Entstehung des Schnalzens Anlass gab; die Furcht vor Nebel durch jenen Spaziergang auf Rügen; immerhin spielt in dieser Gruppe die primäre, sozusagen instinctive Furcht, als psychisches Stigma genommen, die Hauptrolle.

Die anderen und specielleren Phobien sind auch durch besondere Erlebnisse gerechtfertigt. Die Furcht vor einem unerwarteten, plötzlichen Schreckniss ist das Ergebniss jenes schrecklichsten Eindrucks in ihrem Leben, als sie ihren Mann mitten aus bester Gesundheit an einem Herzschlag verscheiden sah. Die Furcht vor fremden Menschen, die Menschenfurcht überhaupt, erweist sich als Rest aus jener Zeit, in der sie den Verfolgungen ihrer Familie ausgesetzt und geneigt war, in jedem Fremden einen Agenten der Verwandtschaft zu sehen, oder in der ihr der Gedanke nahe lag, die Fremden wüssten um die Dinge, die mündlich und schriftlich über sie verbreitet wurden. Die Angst vor dem Irrenhause und dessen Einwohnern geht auf eine ganze Reihe von traurigen Erlebnissen in ihrer Familie und auf Schilderungen zurück, die dem horchenden Kinde eine dumme Dienstmagd machte, ausserdem stützt sich diese Phobie einerseits auf das primäre, instinctive Grauen des Gesunden vor dem Wahnsinn, andererseits auf die wie bei jedem Nervösen so auch bei ihr vorhandene Sorge, selbst dem Wahnsinn zu verfallen. Eine so specialisirte Angst wie die, dass jemand hinter ihr stünde, wird durch mehrere schreckhafte Eindrücke aus ihrer Jugend und aus späterer Zeit motivirt. Seit einem ihr besonders peinlichen Erlebniss im Hôtel, peinlich, weil es mit Erotik verknüpft ist, wird die Angst vor dem Einschleichen einer fremden Person besonders hervorgehoben; endlich eine den Neuropathen so häufig eigene Phobie, die vor dem Lebendigbegrabenwerden, findet ihre volle Aufklärung in dem Glauben, dass ihr Mann nicht todt war, als man seine Leiche forttrug, einem Glauben, in dem sich die Unfähigkeit so rührend äussert, sich in das plötzliche Aufhören der Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen zu finden. Ich meine übrigens, dass alle diese physischen Momente nur die Auswahl, aber nicht die Fortdauer der Phobien erklären können. Für letztere muss ich ein neurotisches Moment heranziehen, den Umstand nämlich, dass die Patientin sich seit Jahren in sexueller Abstinenz befand, womit einer der häufigsten Anlässe zur Angstneigung gegeben ist.

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[74/0080] worden, so die Furcht vor Kröten durch den Eindruck in früher Jugend, als ihr ein Bruder eine todte Kröte nachwarf, worauf sie den Anfall hysterischer Zuckungen bekam; die Gewitterfurcht durch jenen Schreck, der zur Entstehung des Schnalzens Anlass gab; die Furcht vor Nebel durch jenen Spaziergang auf Rügen; immerhin spielt in dieser Gruppe die primäre, sozusagen instinctive Furcht, als psychisches Stigma genommen, die Hauptrolle. Die anderen und specielleren Phobien sind auch durch besondere Erlebnisse gerechtfertigt. Die Furcht vor einem unerwarteten, plötzlichen Schreckniss ist das Ergebniss jenes schrecklichsten Eindrucks in ihrem Leben, als sie ihren Mann mitten aus bester Gesundheit an einem Herzschlag verscheiden sah. Die Furcht vor fremden Menschen, die Menschenfurcht überhaupt, erweist sich als Rest aus jener Zeit, in der sie den Verfolgungen ihrer Familie ausgesetzt und geneigt war, in jedem Fremden einen Agenten der Verwandtschaft zu sehen, oder in der ihr der Gedanke nahe lag, die Fremden wüssten um die Dinge, die mündlich und schriftlich über sie verbreitet wurden. Die Angst vor dem Irrenhause und dessen Einwohnern geht auf eine ganze Reihe von traurigen Erlebnissen in ihrer Familie und auf Schilderungen zurück, die dem horchenden Kinde eine dumme Dienstmagd machte, ausserdem stützt sich diese Phobie einerseits auf das primäre, instinctive Grauen des Gesunden vor dem Wahnsinn, andererseits auf die wie bei jedem Nervösen so auch bei ihr vorhandene Sorge, selbst dem Wahnsinn zu verfallen. Eine so specialisirte Angst wie die, dass jemand hinter ihr stünde, wird durch mehrere schreckhafte Eindrücke aus ihrer Jugend und aus späterer Zeit motivirt. Seit einem ihr besonders peinlichen Erlebniss im Hôtel, peinlich, weil es mit Erotik verknüpft ist, wird die Angst vor dem Einschleichen einer fremden Person besonders hervorgehoben; endlich eine den Neuropathen so häufig eigene Phobie, die vor dem Lebendigbegrabenwerden, findet ihre volle Aufklärung in dem Glauben, dass ihr Mann nicht todt war, als man seine Leiche forttrug, einem Glauben, in dem sich die Unfähigkeit so rührend äussert, sich in das plötzliche Aufhören der Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen zu finden. Ich meine übrigens, dass alle diese physischen Momente nur die Auswahl, aber nicht die Fortdauer der Phobien erklären können. Für letztere muss ich ein neurotisches Moment heranziehen, den Umstand nämlich, dass die Patientin sich seit Jahren in sexueller Abstinenz befand, womit einer der häufigsten Anlässe zur Angstneigung gegeben ist.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/80>, abgerufen am 19.04.2024.