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Gauß, Carl Friedrich: Anzeige von 'Theoria residuorum biquadraticorum, commentatio secunda'. In: Göttingische gelehrte Anzeigen, 23. April 1831, S. 169–178.

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Göttingische gel. Anzeigen
nalen, zu den positiven die negativen, zu den
reellen die imaginären hinzugekommen. Dieß
Vorschreiten ist aber immer anfangs mit furcht-
sam zögerndem Schritt geschehen. Die ersten
Algebraisten nannten noch die negativen Wurzeln
der Gleichungen falsche Wurzeln, und sie sind es
auch, wo die Aufgabe, auf welche sie sich be-
ziehen, so eingekleidet vorgetragen ist, daß die
Beschaffenheit der gesuchten Größe kein Entge-
gengesetztes zuläßt. Allein so wenig man in der
Allgemeinen Arithmetik Bedenken hat, die
gebrochenen Zahlen mit aufzunehmen, obgleich es
so viele zählbare Dinge gibt, wobey eine Bruch-
zahl ohne Sinn ist, eben so wenig durften in
jener den negativen Zahlen gleiche Rechte mit
den positiven deshalb versagt werden, weil un-
zählige Dinge kein Entgegengesetztes zulassen:
die Realität der negativen Zahlen ist hinreichend
gerechtfertigt, da sie in unzähligen andern Fäl-
len ein adäquates Substrat finden. Darüber ist
man nun freylich seit langer Zeit im Klaren-
Allein die den reellen Größen gegenübergestellten
imaginären -- ehemals, und hin und wieder
noch jetzt, obwohl unschicklich, unmögliche ge-
nannt -- sind noch immer weniger eingebürgert
als nur geduldet, und erscheinen also mehr wie
ein an sich inhaltleeres Zeichenspiel, dem man
ein denkbares Substrat unbedingt abspricht, oh-
ne doch den reichen Tribut, welchen dieses Zei-
chenspiel zuletzt in den Schatz der Verhältnisse
der reellen Größen steuert, verschmähen zu wollen.

Der Verf. hat diesen hochwichtigen Theil der
Mathematik seit vielen Jahren aus einem ver-
schiedenen Gesichtspunct betrachtet, wobey den
imaginären Größen eben so gut ein Gegenstand
untergelegt werden kann, wie den negativen: es
hat aber bisher an einer Veranlassung gefehlt,

Goͤttingiſche gel. Anzeigen
nalen, zu den poſitiven die negativen, zu den
reellen die imaginaͤren hinzugekommen. Dieß
Vorſchreiten iſt aber immer anfangs mit furcht-
ſam zoͤgerndem Schritt geſchehen. Die erſten
Algebraiſten nannten noch die negativen Wurzeln
der Gleichungen falſche Wurzeln, und ſie ſind es
auch, wo die Aufgabe, auf welche ſie ſich be-
ziehen, ſo eingekleidet vorgetragen iſt, daß die
Beſchaffenheit der geſuchten Groͤße kein Entge-
gengeſetztes zulaͤßt. Allein ſo wenig man in der
Allgemeinen Arithmetik Bedenken hat, die
gebrochenen Zahlen mit aufzunehmen, obgleich es
ſo viele zaͤhlbare Dinge gibt, wobey eine Bruch-
zahl ohne Sinn iſt, eben ſo wenig durften in
jener den negativen Zahlen gleiche Rechte mit
den poſitiven deshalb verſagt werden, weil un-
zaͤhlige Dinge kein Entgegengeſetztes zulaſſen:
die Realitaͤt der negativen Zahlen iſt hinreichend
gerechtfertigt, da ſie in unzaͤhligen andern Faͤl-
len ein adaͤquates Subſtrat finden. Daruͤber iſt
man nun freylich ſeit langer Zeit im Klaren-
Allein die den reellen Groͤßen gegenuͤbergeſtellten
imaginaͤren — ehemals, und hin und wieder
noch jetzt, obwohl unſchicklich, unmoͤgliche ge-
nannt — ſind noch immer weniger eingebuͤrgert
als nur geduldet, und erſcheinen alſo mehr wie
ein an ſich inhaltleeres Zeichenſpiel, dem man
ein denkbares Subſtrat unbedingt abſpricht, oh-
ne doch den reichen Tribut, welchen dieſes Zei-
chenſpiel zuletzt in den Schatz der Verhaͤltniſſe
der reellen Groͤßen ſteuert, verſchmaͤhen zu wollen.

Der Verf. hat dieſen hochwichtigen Theil der
Mathematik ſeit vielen Jahren aus einem ver-
ſchiedenen Geſichtspunct betrachtet, wobey den
imaginaͤren Groͤßen eben ſo gut ein Gegenſtand
untergelegt werden kann, wie den negativen: es
hat aber bisher an einer Veranlaſſung gefehlt,

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[634/0017] Goͤttingiſche gel. Anzeigen nalen, zu den poſitiven die negativen, zu den reellen die imaginaͤren hinzugekommen. Dieß Vorſchreiten iſt aber immer anfangs mit furcht- ſam zoͤgerndem Schritt geſchehen. Die erſten Algebraiſten nannten noch die negativen Wurzeln der Gleichungen falſche Wurzeln, und ſie ſind es auch, wo die Aufgabe, auf welche ſie ſich be- ziehen, ſo eingekleidet vorgetragen iſt, daß die Beſchaffenheit der geſuchten Groͤße kein Entge- gengeſetztes zulaͤßt. Allein ſo wenig man in der Allgemeinen Arithmetik Bedenken hat, die gebrochenen Zahlen mit aufzunehmen, obgleich es ſo viele zaͤhlbare Dinge gibt, wobey eine Bruch- zahl ohne Sinn iſt, eben ſo wenig durften in jener den negativen Zahlen gleiche Rechte mit den poſitiven deshalb verſagt werden, weil un- zaͤhlige Dinge kein Entgegengeſetztes zulaſſen: die Realitaͤt der negativen Zahlen iſt hinreichend gerechtfertigt, da ſie in unzaͤhligen andern Faͤl- len ein adaͤquates Subſtrat finden. Daruͤber iſt man nun freylich ſeit langer Zeit im Klaren- Allein die den reellen Groͤßen gegenuͤbergeſtellten imaginaͤren — ehemals, und hin und wieder noch jetzt, obwohl unſchicklich, unmoͤgliche ge- nannt — ſind noch immer weniger eingebuͤrgert als nur geduldet, und erſcheinen alſo mehr wie ein an ſich inhaltleeres Zeichenſpiel, dem man ein denkbares Subſtrat unbedingt abſpricht, oh- ne doch den reichen Tribut, welchen dieſes Zei- chenſpiel zuletzt in den Schatz der Verhaͤltniſſe der reellen Groͤßen ſteuert, verſchmaͤhen zu wollen. Der Verf. hat dieſen hochwichtigen Theil der Mathematik ſeit vielen Jahren aus einem ver- ſchiedenen Geſichtspunct betrachtet, wobey den imaginaͤren Groͤßen eben ſo gut ein Gegenſtand untergelegt werden kann, wie den negativen: es hat aber bisher an einer Veranlaſſung gefehlt,

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Zitationshilfe: Gauß, Carl Friedrich: Anzeige von 'Theoria residuorum biquadraticorum, commentatio secunda'. In: Göttingische gelehrte Anzeigen, 23. April 1831, S. 169–178, hier S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gauss_theoria_1831/17>, abgerufen am 28.03.2024.