Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.Ende dieser Zeit bestimmen, erliegen mussten. Die Natur, in welcher sie lebten, bot kein erziehendes Moment von durchgreifender Macht; und hätte sie es durch irgend welche Veränderungen ihnen noch geboten, sie waren nicht mehr im Stande, es sich zu nutze zu machen, da sie durch und in Jahrtausende langer Gewöhnung erstarrt waren. Sollten diese Völker also gerettet werden, so war ein plötzlicher Anstoss, es war das Eingreifen der Kultur nothwendig; und obwohl dieselbe ihre Aufgabe so blutig gelöst hat; so ist diese Nothwendigkeit doch ein Gedanke, der über das viele Blut und Elend, das sie oder vielmehr ihre Träger schufen, einigermassen tröstet. § 19. Vergleichung der Natur- und Kulturvölker in
Bezug auf ihre Lebenskraft. Da sich nun aus allen diesen angeführten Gründen das Aussterben der Naturvölker vollkommen erklärt, ja da die Art ihrer Wirksamkeit uns erst recht die Lebenskraft des Menschengeschlechtes beweist: so fällt damit schon von selbst die Annahme, als ob die Naturvölker "von der Natur zum Untergange bestimmt" geringer organisirt seien als die Kulturvölker. Dies wird sich ganz klar und unwiderleglich zeigen, wenn wir die Wirksamkeit derselben Gründe auf die europäischen Nationen betrachten. Wir werden dort ganz genau denselben, ja einen noch weit schlimmeren Erfolg derselben sehen. Alles, was Cäsar den Galliern zufügte, die Verwüstung des Landes, die grossen Verluste an Menschenleben, das Zertreten des Nationalgefühls, alles das ist doch wahrlich nicht zu vergleichen mit dem, was Mexiko z. B. oder die Nordamerikaner litten: und dennoch war durch Cäsar in nicht 10 Jahren das gallische Volk, das er freilich schon herabgesunken vorfand, so sehr gebrochen, dass es seine Selbständigkeit bis auf die Sprache verlor. Allerdings hatten die italischen Bürgerkriege Italien etwa 70 Jahre auf das grauenvollste verwüstet; aber nach ihnen finden wir auch das Land im Innersten gebrochen und die Macht des römischen Staates auf Heeren von Fremdlingen beruhend; erst massenhaft versetzt mit frischen germanischen Elementen und auch da erst nach langer Ruhe hebt sich die italische Bevölkerung, nun ein ganz neues Volk, wieder empor. Und doch waren auch seine Leiden viel geringer als die der Amerikaner. Und die Griechen! Warum haben sie aufgehört ein historisch bedeutendes Volk zu sein? weil sie entnervt waren von den scheusslichsten Ausschweifungen und ihre letzte Kraft zertreten Ende dieser Zeit bestimmen, erliegen mussten. Die Natur, in welcher sie lebten, bot kein erziehendes Moment von durchgreifender Macht; und hätte sie es durch irgend welche Veränderungen ihnen noch geboten, sie waren nicht mehr im Stande, es sich zu nutze zu machen, da sie durch und in Jahrtausende langer Gewöhnung erstarrt waren. Sollten diese Völker also gerettet werden, so war ein plötzlicher Anstoss, es war das Eingreifen der Kultur nothwendig; und obwohl dieselbe ihre Aufgabe so blutig gelöst hat; so ist diese Nothwendigkeit doch ein Gedanke, der über das viele Blut und Elend, das sie oder vielmehr ihre Träger schufen, einigermassen tröstet. § 19. Vergleichung der Natur- und Kulturvölker in
Bezug auf ihre Lebenskraft. Da sich nun aus allen diesen angeführten Gründen das Aussterben der Naturvölker vollkommen erklärt, ja da die Art ihrer Wirksamkeit uns erst recht die Lebenskraft des Menschengeschlechtes beweist: so fällt damit schon von selbst die Annahme, als ob die Naturvölker »von der Natur zum Untergange bestimmt« geringer organisirt seien als die Kulturvölker. Dies wird sich ganz klar und unwiderleglich zeigen, wenn wir die Wirksamkeit derselben Gründe auf die europäischen Nationen betrachten. Wir werden dort ganz genau denselben, ja einen noch weit schlimmeren Erfolg derselben sehen. Alles, was Cäsar den Galliern zufügte, die Verwüstung des Landes, die grossen Verluste an Menschenleben, das Zertreten des Nationalgefühls, alles das ist doch wahrlich nicht zu vergleichen mit dem, was Mexiko z. B. oder die Nordamerikaner litten: und dennoch war durch Cäsar in nicht 10 Jahren das gallische Volk, das er freilich schon herabgesunken vorfand, so sehr gebrochen, dass es seine Selbständigkeit bis auf die Sprache verlor. Allerdings hatten die italischen Bürgerkriege Italien etwa 70 Jahre auf das grauenvollste verwüstet; aber nach ihnen finden wir auch das Land im Innersten gebrochen und die Macht des römischen Staates auf Heeren von Fremdlingen beruhend; erst massenhaft versetzt mit frischen germanischen Elementen und auch da erst nach langer Ruhe hebt sich die italische Bevölkerung, nun ein ganz neues Volk, wieder empor. Und doch waren auch seine Leiden viel geringer als die der Amerikaner. Und die Griechen! Warum haben sie aufgehört ein historisch bedeutendes Volk zu sein? weil sie entnervt waren von den scheusslichsten Ausschweifungen und ihre letzte Kraft zertreten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0134"/> Ende dieser Zeit bestimmen, erliegen mussten. Die Natur, in welcher sie lebten, bot kein erziehendes Moment von durchgreifender Macht; und hätte sie es durch irgend welche Veränderungen ihnen noch geboten, sie waren nicht mehr im Stande, es sich zu nutze zu machen, da sie durch und in Jahrtausende langer Gewöhnung erstarrt waren. Sollten diese Völker also gerettet werden, so war ein plötzlicher Anstoss, es war das Eingreifen der Kultur nothwendig; und obwohl dieselbe ihre Aufgabe so blutig gelöst hat; so ist diese Nothwendigkeit doch ein Gedanke, der über das viele Blut und Elend, das sie oder vielmehr ihre Träger schufen, einigermassen tröstet.</p> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="1"> <head>§ 19. <hi rendition="#i">Vergleichung der Natur- und Kulturvölker in Bezug auf ihre Lebenskraft.</hi></head><lb/> <p>Da sich nun aus allen diesen angeführten Gründen das Aussterben der Naturvölker vollkommen erklärt, ja da die Art ihrer Wirksamkeit uns erst recht die Lebenskraft des Menschengeschlechtes beweist: so fällt damit schon von selbst die Annahme, als ob die Naturvölker »von der Natur zum Untergange bestimmt« geringer organisirt seien als die Kulturvölker. Dies wird sich ganz klar und unwiderleglich zeigen, wenn wir die Wirksamkeit derselben Gründe auf die europäischen Nationen betrachten. Wir werden dort ganz genau denselben, ja einen noch weit schlimmeren Erfolg derselben sehen.</p> <p>Alles, was Cäsar den Galliern zufügte, die Verwüstung des Landes, die grossen Verluste an Menschenleben, das Zertreten des Nationalgefühls, alles das ist doch wahrlich nicht zu vergleichen mit dem, was Mexiko z. B. oder die Nordamerikaner litten: und dennoch war durch Cäsar in nicht 10 Jahren das gallische Volk, das er freilich schon herabgesunken vorfand, so sehr gebrochen, dass es seine Selbständigkeit bis auf die Sprache verlor. Allerdings hatten die italischen Bürgerkriege Italien etwa 70 Jahre auf das grauenvollste verwüstet; aber nach ihnen finden wir auch das Land im Innersten gebrochen und die Macht des römischen Staates auf Heeren von Fremdlingen beruhend; erst massenhaft versetzt mit frischen germanischen Elementen und auch da erst nach langer Ruhe hebt sich die italische Bevölkerung, nun ein ganz neues Volk, wieder empor. Und doch waren auch seine Leiden viel geringer als die der Amerikaner. Und die Griechen! Warum haben sie aufgehört ein historisch bedeutendes Volk zu sein? weil sie entnervt waren von den scheusslichsten Ausschweifungen und ihre letzte Kraft zertreten </p> </div> </body> </text> </TEI> [0134]
Ende dieser Zeit bestimmen, erliegen mussten. Die Natur, in welcher sie lebten, bot kein erziehendes Moment von durchgreifender Macht; und hätte sie es durch irgend welche Veränderungen ihnen noch geboten, sie waren nicht mehr im Stande, es sich zu nutze zu machen, da sie durch und in Jahrtausende langer Gewöhnung erstarrt waren. Sollten diese Völker also gerettet werden, so war ein plötzlicher Anstoss, es war das Eingreifen der Kultur nothwendig; und obwohl dieselbe ihre Aufgabe so blutig gelöst hat; so ist diese Nothwendigkeit doch ein Gedanke, der über das viele Blut und Elend, das sie oder vielmehr ihre Träger schufen, einigermassen tröstet.
§ 19. Vergleichung der Natur- und Kulturvölker in Bezug auf ihre Lebenskraft.
Da sich nun aus allen diesen angeführten Gründen das Aussterben der Naturvölker vollkommen erklärt, ja da die Art ihrer Wirksamkeit uns erst recht die Lebenskraft des Menschengeschlechtes beweist: so fällt damit schon von selbst die Annahme, als ob die Naturvölker »von der Natur zum Untergange bestimmt« geringer organisirt seien als die Kulturvölker. Dies wird sich ganz klar und unwiderleglich zeigen, wenn wir die Wirksamkeit derselben Gründe auf die europäischen Nationen betrachten. Wir werden dort ganz genau denselben, ja einen noch weit schlimmeren Erfolg derselben sehen.
Alles, was Cäsar den Galliern zufügte, die Verwüstung des Landes, die grossen Verluste an Menschenleben, das Zertreten des Nationalgefühls, alles das ist doch wahrlich nicht zu vergleichen mit dem, was Mexiko z. B. oder die Nordamerikaner litten: und dennoch war durch Cäsar in nicht 10 Jahren das gallische Volk, das er freilich schon herabgesunken vorfand, so sehr gebrochen, dass es seine Selbständigkeit bis auf die Sprache verlor. Allerdings hatten die italischen Bürgerkriege Italien etwa 70 Jahre auf das grauenvollste verwüstet; aber nach ihnen finden wir auch das Land im Innersten gebrochen und die Macht des römischen Staates auf Heeren von Fremdlingen beruhend; erst massenhaft versetzt mit frischen germanischen Elementen und auch da erst nach langer Ruhe hebt sich die italische Bevölkerung, nun ein ganz neues Volk, wieder empor. Und doch waren auch seine Leiden viel geringer als die der Amerikaner. Und die Griechen! Warum haben sie aufgehört ein historisch bedeutendes Volk zu sein? weil sie entnervt waren von den scheusslichsten Ausschweifungen und ihre letzte Kraft zertreten
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Zitationshilfe: | Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/134>, abgerufen am 09.02.2025. |