Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

wurde zuerst durch die Stürme der Völkerwanderung und dann durch das türkische Joch. Aber welche Höhe hatten die Griechen einst inne -- und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man jetzt die Durchschnittsbildung der Griechen gleichstellt mit der etwa der übriggebliebenen Mexikaner.

Der 30jährige Krieg, welcher doch im Anfang nur lokal und nie ohne Unterbrechungen wüthete und mit allen seinen Greueln und seiner Dauer durchaus nicht das, was die Naturvölker zu leiden hatten, erreicht, welche grenzenlose Verwüstung hat er in der Bevölkerung unseres Vaterlandes angerichtet! Ernstlich war durch ihn die deutsche Nation in ihrer Existenz gefährdet und es ist ja eine vielfach ausgesprochene Wahrheit, dass einmal unser Nationalcharakter durch diesen furchtbaren Krieg mannigfach verändert und herabgedrückt ist, andererseits wir noch bis auf den heutigen Tag mit der Heilung der Wunden, welche er unserem socialen und politischen Leben geschlagen hat, zu thun haben.

Sehen wir so an diesen wenigen historischen Beispielen dieselben Ursachen bei den kultivirten Nationen noch stärker wirken, als bei den Naturvölkern: so wird eine kurze psychologische Betrachtung uns dasselbe lehren. Obwohl wir eine Religion haben, welche den Gläubigen Trost gewährt auch im schlimmsten Unglück, obwohl wir durch die Kultur so manches Hülfsmittel auch für bedrängte Lagen haben: so wirken doch auf uns eine Menge Dinge, welche auf die Naturvölker noch gar keinen und eine Menge anderer, welche auf sie weit geringern Einfluss haben. Wir sind in unserm leiblichen Leben verzärtelt, an eine Menge Bequemlichkeit gewöhnt, die wir nicht entbehren können; wir sind geistig viel empfindlicher und ein Niederwerfen dessen, was uns heilig ist, drückt uns mit zu Boden. Liebe zu den Verwandten, Scham, kurz eine ganze Reihe mächtiger geistiger Faktoren haben bei den Kulturvölkern eine solche Herrschaft übers Leben, dass, wenn sie ernstlich verletzt werden, das Leben mit bedroht ist, und man kann wohl sagen, je gebildeter ein Volk ist, um so rascher muss es in fortwährendem Unheil sich verzehren. Wenn wir z. B. nur bedenken, welche Wirkungen das Gefühl eines ohnmächtigen Ingrimms, das längere Zeit immer in uns erneut würde, auf uns haben müsste, wie jeder Einzelne an sich abnehmen kann, so werden wir einmal ermessen können, wie dasselbe Gefühl auf die Naturvölker eingewirkt haben muss, bei welchen es durch so furchtbare Misshandlungen fortwährend erneut wurde und es sehr begreiflich finden, wenn sie schon durch dieses allein zu Grunde gegangen wären; wir werden einsehen, was die gebildeten Mexikaner und Peruaner gelitten haben und warum gerade sie so rasch mit dem Sturze ihrer Bildung zu Grunde gingen; wir werden aber andererseits zugestehen müssen, dass wir unter ähnlichen Verhältnissen wohl viel weniger Widerstandskraft haben würden, als jene Völker, und gewiss jetzt

wurde zuerst durch die Stürme der Völkerwanderung und dann durch das türkische Joch. Aber welche Höhe hatten die Griechen einst inne — und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man jetzt die Durchschnittsbildung der Griechen gleichstellt mit der etwa der übriggebliebenen Mexikaner.

Der 30jährige Krieg, welcher doch im Anfang nur lokal und nie ohne Unterbrechungen wüthete und mit allen seinen Greueln und seiner Dauer durchaus nicht das, was die Naturvölker zu leiden hatten, erreicht, welche grenzenlose Verwüstung hat er in der Bevölkerung unseres Vaterlandes angerichtet! Ernstlich war durch ihn die deutsche Nation in ihrer Existenz gefährdet und es ist ja eine vielfach ausgesprochene Wahrheit, dass einmal unser Nationalcharakter durch diesen furchtbaren Krieg mannigfach verändert und herabgedrückt ist, andererseits wir noch bis auf den heutigen Tag mit der Heilung der Wunden, welche er unserem socialen und politischen Leben geschlagen hat, zu thun haben.

Sehen wir so an diesen wenigen historischen Beispielen dieselben Ursachen bei den kultivirten Nationen noch stärker wirken, als bei den Naturvölkern: so wird eine kurze psychologische Betrachtung uns dasselbe lehren. Obwohl wir eine Religion haben, welche den Gläubigen Trost gewährt auch im schlimmsten Unglück, obwohl wir durch die Kultur so manches Hülfsmittel auch für bedrängte Lagen haben: so wirken doch auf uns eine Menge Dinge, welche auf die Naturvölker noch gar keinen und eine Menge anderer, welche auf sie weit geringern Einfluss haben. Wir sind in unserm leiblichen Leben verzärtelt, an eine Menge Bequemlichkeit gewöhnt, die wir nicht entbehren können; wir sind geistig viel empfindlicher und ein Niederwerfen dessen, was uns heilig ist, drückt uns mit zu Boden. Liebe zu den Verwandten, Scham, kurz eine ganze Reihe mächtiger geistiger Faktoren haben bei den Kulturvölkern eine solche Herrschaft übers Leben, dass, wenn sie ernstlich verletzt werden, das Leben mit bedroht ist, und man kann wohl sagen, je gebildeter ein Volk ist, um so rascher muss es in fortwährendem Unheil sich verzehren. Wenn wir z. B. nur bedenken, welche Wirkungen das Gefühl eines ohnmächtigen Ingrimms, das längere Zeit immer in uns erneut würde, auf uns haben müsste, wie jeder Einzelne an sich abnehmen kann, so werden wir einmal ermessen können, wie dasselbe Gefühl auf die Naturvölker eingewirkt haben muss, bei welchen es durch so furchtbare Misshandlungen fortwährend erneut wurde und es sehr begreiflich finden, wenn sie schon durch dieses allein zu Grunde gegangen wären; wir werden einsehen, was die gebildeten Mexikaner und Peruaner gelitten haben und warum gerade sie so rasch mit dem Sturze ihrer Bildung zu Grunde gingen; wir werden aber andererseits zugestehen müssen, dass wir unter ähnlichen Verhältnissen wohl viel weniger Widerstandskraft haben würden, als jene Völker, und gewiss jetzt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0135"/>
wurde zuerst durch die Stürme der
 Völkerwanderung und dann durch das türkische Joch. Aber
 welche Höhe hatten die Griechen einst inne &#x2014; und es ist
 nicht zu viel gesagt, wenn man jetzt die Durchschnittsbildung der
 Griechen gleichstellt mit der etwa der übriggebliebenen
 Mexikaner.</p>
        <p>Der 30jährige Krieg, welcher doch im Anfang nur lokal und
 nie ohne Unterbrechungen wüthete und mit allen seinen Greueln
 und seiner Dauer durchaus nicht das, was die Naturvölker zu
 leiden hatten, erreicht, welche grenzenlose Verwüstung hat er
 in der Bevölkerung unseres Vaterlandes angerichtet! Ernstlich
 war durch ihn die deutsche Nation in ihrer Existenz gefährdet
 und es ist ja eine vielfach ausgesprochene Wahrheit, dass einmal
 unser Nationalcharakter durch diesen furchtbaren Krieg mannigfach
 verändert und herabgedrückt ist, andererseits wir noch
 bis auf den heutigen Tag mit der Heilung der Wunden, welche er
 unserem socialen und politischen Leben geschlagen hat, zu thun
 haben.</p>
        <p>Sehen wir so an diesen wenigen historischen Beispielen dieselben
 Ursachen bei den kultivirten Nationen noch stärker wirken, als
 bei den Naturvölkern: so wird eine kurze psychologische
 Betrachtung uns dasselbe lehren. Obwohl wir eine Religion haben,
 welche den Gläubigen Trost gewährt auch im schlimmsten
 Unglück, obwohl wir durch die Kultur so manches
 Hülfsmittel auch für bedrängte Lagen haben: so
 wirken doch auf uns eine Menge Dinge, welche auf die
 Naturvölker noch gar keinen und eine Menge anderer, welche auf
 sie weit geringern Einfluss haben. Wir sind in unserm leiblichen
 Leben verzärtelt, an eine Menge Bequemlichkeit gewöhnt,
 die wir nicht entbehren können; wir sind geistig viel
 empfindlicher und ein Niederwerfen dessen, was uns heilig ist,
 drückt uns mit zu Boden. Liebe zu den Verwandten, Scham, kurz
 eine ganze Reihe mächtiger geistiger Faktoren haben bei den
 Kulturvölkern eine solche Herrschaft übers Leben, dass,
 wenn sie ernstlich verletzt werden, das Leben mit bedroht ist, und
 man kann wohl sagen, je gebildeter ein Volk ist, um so rascher muss
 es in fortwährendem Unheil sich verzehren. Wenn wir z. B. nur
 bedenken, welche Wirkungen das Gefühl eines ohnmächtigen
 Ingrimms, das längere Zeit immer in uns erneut würde, auf
 uns haben müsste, wie jeder Einzelne an sich abnehmen kann, so
 werden wir einmal ermessen können, wie dasselbe Gefühl
 auf die Naturvölker eingewirkt haben muss, bei welchen es
 durch so furchtbare Misshandlungen fortwährend erneut wurde
 und es sehr begreiflich finden, wenn sie schon durch dieses allein
 zu Grunde gegangen wären; wir werden einsehen, was die
 gebildeten Mexikaner und Peruaner gelitten haben und warum gerade
 sie so rasch mit dem Sturze ihrer Bildung zu Grunde gingen; wir
 werden aber andererseits zugestehen müssen, dass wir unter
 ähnlichen Verhältnissen wohl viel weniger
 Widerstandskraft haben würden, als jene Völker, und
 gewiss jetzt
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0135] wurde zuerst durch die Stürme der Völkerwanderung und dann durch das türkische Joch. Aber welche Höhe hatten die Griechen einst inne — und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man jetzt die Durchschnittsbildung der Griechen gleichstellt mit der etwa der übriggebliebenen Mexikaner. Der 30jährige Krieg, welcher doch im Anfang nur lokal und nie ohne Unterbrechungen wüthete und mit allen seinen Greueln und seiner Dauer durchaus nicht das, was die Naturvölker zu leiden hatten, erreicht, welche grenzenlose Verwüstung hat er in der Bevölkerung unseres Vaterlandes angerichtet! Ernstlich war durch ihn die deutsche Nation in ihrer Existenz gefährdet und es ist ja eine vielfach ausgesprochene Wahrheit, dass einmal unser Nationalcharakter durch diesen furchtbaren Krieg mannigfach verändert und herabgedrückt ist, andererseits wir noch bis auf den heutigen Tag mit der Heilung der Wunden, welche er unserem socialen und politischen Leben geschlagen hat, zu thun haben. Sehen wir so an diesen wenigen historischen Beispielen dieselben Ursachen bei den kultivirten Nationen noch stärker wirken, als bei den Naturvölkern: so wird eine kurze psychologische Betrachtung uns dasselbe lehren. Obwohl wir eine Religion haben, welche den Gläubigen Trost gewährt auch im schlimmsten Unglück, obwohl wir durch die Kultur so manches Hülfsmittel auch für bedrängte Lagen haben: so wirken doch auf uns eine Menge Dinge, welche auf die Naturvölker noch gar keinen und eine Menge anderer, welche auf sie weit geringern Einfluss haben. Wir sind in unserm leiblichen Leben verzärtelt, an eine Menge Bequemlichkeit gewöhnt, die wir nicht entbehren können; wir sind geistig viel empfindlicher und ein Niederwerfen dessen, was uns heilig ist, drückt uns mit zu Boden. Liebe zu den Verwandten, Scham, kurz eine ganze Reihe mächtiger geistiger Faktoren haben bei den Kulturvölkern eine solche Herrschaft übers Leben, dass, wenn sie ernstlich verletzt werden, das Leben mit bedroht ist, und man kann wohl sagen, je gebildeter ein Volk ist, um so rascher muss es in fortwährendem Unheil sich verzehren. Wenn wir z. B. nur bedenken, welche Wirkungen das Gefühl eines ohnmächtigen Ingrimms, das längere Zeit immer in uns erneut würde, auf uns haben müsste, wie jeder Einzelne an sich abnehmen kann, so werden wir einmal ermessen können, wie dasselbe Gefühl auf die Naturvölker eingewirkt haben muss, bei welchen es durch so furchtbare Misshandlungen fortwährend erneut wurde und es sehr begreiflich finden, wenn sie schon durch dieses allein zu Grunde gegangen wären; wir werden einsehen, was die gebildeten Mexikaner und Peruaner gelitten haben und warum gerade sie so rasch mit dem Sturze ihrer Bildung zu Grunde gingen; wir werden aber andererseits zugestehen müssen, dass wir unter ähnlichen Verhältnissen wohl viel weniger Widerstandskraft haben würden, als jene Völker, und gewiss jetzt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2012-11-06T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Die Transkription entspricht den DTA-Richtlinien.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/135
Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/135>, abgerufen am 23.04.2024.