Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.glaubte man, kleine Kinder, welche stürben, seien den Göttern besonders lieb; sie kämen zu einem Baum, von welchem beständig Milch herabträufele, und seien Vermittler zwischen Göttern und Menschen (Waitz 4, 166). Kinderopfer, um die Götter gnädig zu stimmen, kamen viel bei ihnen vor (4, 159) und das Bild des Gottes, das sie bei der Ceremonie, die unserem Abendmahl ähnlich ist, unter sich vertheilen und als "das Fleisch Gottes" verzehren, war mit Kinderblut angefertigt, wie auch bei den Totonaken die Kuchen bereitet waren, welche sie "das Brot unseres Lebens" nannten (Waitz 4, 161). Jetzt scheint diese Sitte dort keine anderen Motive zu haben, als Eitelkeit, Faulheit und Elend und Noth*). Das Tödten von Zwillingen oder des einen von beiden Kindern beruht auf anderen Grundlagen: es geht aus von dem Schreck über das portentum einer mehrfachen Geburt, in welcher man etwas Unnatürliches und daher Unheimliches oder aber eine Thierähnlichkeit sah. § 9. Krieg und Kannibalismus. Haben wir oben gesehen, wie wenig das Menschenleben bei den Naturvölkern geachtet wurde, so werden wir von seinem geringen Werth bei ihnen im Folgenden noch massenhaftere Beispiele finden, da wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen müssen, welchen Einfluss auf Zahl und Existenz dieser Völker haben Krieg, Kannibalismus und Menschenopfer gehabt? Freilich scheint die Art der Kriegführung bei den unkultivirten Stämmen mindere Opfer als bei den kultivirten gefordert zu haben. Denn so kriegerisch auch die Nordamerikaner waren, so sehr ihr ganzes Leben beinah auf dem Krieg beruhte, so galt ihnen doch eine Art der Kriegführung, wie die europäische, wo man in offener Feld- *) Dass übrigens auch bei Indogermanen und Semiten die Kinder vielfach getödtet sind, ist ja bekannt genug. In Griechenland wurden die Kinder umgebracht, welche der Vater, wenn sie die Hebamme ihm vor die Füsse legte, nicht aufhob; eine Sitte, die bei Plautus und Terenz, d.h. also der späteren attischen Komödie so vielfach erwähnt wird. Namentlich Töchter wurden umgebracht. Diese Tödtung geschah durch Aussetzung zumeist (Schömann griech. Alterthümer 1, 562). Bei den alten Deutschen herrschte durchaus derselbe Gebrauch. Aus semitischem Gebiet sei zunächst an Abrahams Opferung Isaaks erinnert, sodann an den Molochdienst der Phönicier, der so vielfach von den Juden nachgeahmt wurde (Winer, bibl. Realwörterbuch unter Moloch) so wie an die der Astarte geschlachteten Kinder (Movers Phön. 2, 2, 69). Allerdings ist der semitische Gebrauch ein religiöser, also zum Kinderopfern gehörig. Doch liesse sich auch für blosses Aussetzen der Kinder manches Semitische beibringen.
glaubte man, kleine Kinder, welche stürben, seien den Göttern besonders lieb; sie kämen zu einem Baum, von welchem beständig Milch herabträufele, und seien Vermittler zwischen Göttern und Menschen (Waitz 4, 166). Kinderopfer, um die Götter gnädig zu stimmen, kamen viel bei ihnen vor (4, 159) und das Bild des Gottes, das sie bei der Ceremonie, die unserem Abendmahl ähnlich ist, unter sich vertheilen und als »das Fleisch Gottes« verzehren, war mit Kinderblut angefertigt, wie auch bei den Totonaken die Kuchen bereitet waren, welche sie »das Brot unseres Lebens« nannten (Waitz 4, 161). Jetzt scheint diese Sitte dort keine anderen Motive zu haben, als Eitelkeit, Faulheit und Elend und Noth*). Das Tödten von Zwillingen oder des einen von beiden Kindern beruht auf anderen Grundlagen: es geht aus von dem Schreck über das portentum einer mehrfachen Geburt, in welcher man etwas Unnatürliches und daher Unheimliches oder aber eine Thierähnlichkeit sah. § 9. Krieg und Kannibalismus. Haben wir oben gesehen, wie wenig das Menschenleben bei den Naturvölkern geachtet wurde, so werden wir von seinem geringen Werth bei ihnen im Folgenden noch massenhaftere Beispiele finden, da wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen müssen, welchen Einfluss auf Zahl und Existenz dieser Völker haben Krieg, Kannibalismus und Menschenopfer gehabt? Freilich scheint die Art der Kriegführung bei den unkultivirten Stämmen mindere Opfer als bei den kultivirten gefordert zu haben. Denn so kriegerisch auch die Nordamerikaner waren, so sehr ihr ganzes Leben beinah auf dem Krieg beruhte, so galt ihnen doch eine Art der Kriegführung, wie die europäische, wo man in offener Feld- *) Dass übrigens auch bei Indogermanen und Semiten die Kinder vielfach getödtet sind, ist ja bekannt genug. In Griechenland wurden die Kinder umgebracht, welche der Vater, wenn sie die Hebamme ihm vor die Füsse legte, nicht aufhob; eine Sitte, die bei Plautus und Terenz, d.h. also der späteren attischen Komödie so vielfach erwähnt wird. Namentlich Töchter wurden umgebracht. Diese Tödtung geschah durch Aussetzung zumeist (Schömann griech. Alterthümer 1, 562). Bei den alten Deutschen herrschte durchaus derselbe Gebrauch. Aus semitischem Gebiet sei zunächst an Abrahams Opferung Isaaks erinnert, sodann an den Molochdienst der Phönicier, der so vielfach von den Juden nachgeahmt wurde (Winer, bibl. Realwörterbuch unter Moloch) so wie an die der Astarte geschlachteten Kinder (Movers Phön. 2, 2, 69). Allerdings ist der semitische Gebrauch ein religiöser, also zum Kinderopfern gehörig. Doch liesse sich auch für blosses Aussetzen der Kinder manches Semitische beibringen.
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glaubte man, kleine Kinder, welche stürben, seien den Göttern besonders lieb; sie kämen zu einem Baum, von welchem beständig Milch herabträufele, und seien Vermittler zwischen Göttern und Menschen (Waitz 4, 166). Kinderopfer, um die Götter gnädig zu stimmen, kamen viel bei ihnen vor (4, 159) und das Bild des Gottes, das sie bei der Ceremonie, die unserem Abendmahl ähnlich ist, unter sich vertheilen und als »das Fleisch Gottes« verzehren, war mit Kinderblut angefertigt, wie auch bei den Totonaken die Kuchen bereitet waren, welche sie »das Brot unseres Lebens« nannten (Waitz 4, 161). Jetzt scheint diese Sitte dort keine anderen Motive zu haben, als Eitelkeit, Faulheit und Elend und Noth *). Das Tödten von Zwillingen oder des einen von beiden Kindern beruht auf anderen Grundlagen: es geht aus von dem Schreck über das portentum einer mehrfachen Geburt, in welcher man etwas Unnatürliches und daher Unheimliches oder aber eine Thierähnlichkeit sah.
§ 9. Krieg und Kannibalismus.
Haben wir oben gesehen, wie wenig das Menschenleben bei den Naturvölkern geachtet wurde, so werden wir von seinem geringen Werth bei ihnen im Folgenden noch massenhaftere Beispiele finden, da wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen müssen, welchen Einfluss auf Zahl und Existenz dieser Völker haben Krieg, Kannibalismus und Menschenopfer gehabt?
Freilich scheint die Art der Kriegführung bei den unkultivirten Stämmen mindere Opfer als bei den kultivirten gefordert zu haben. Denn so kriegerisch auch die Nordamerikaner waren, so sehr ihr ganzes Leben beinah auf dem Krieg beruhte, so galt ihnen doch eine Art der Kriegführung, wie die europäische, wo man in offener Feld-
*) Dass übrigens auch bei Indogermanen und Semiten die Kinder vielfach getödtet sind, ist ja bekannt genug. In Griechenland wurden die Kinder umgebracht, welche der Vater, wenn sie die Hebamme ihm vor die Füsse legte, nicht aufhob; eine Sitte, die bei Plautus und Terenz, d.h. also der späteren attischen Komödie so vielfach erwähnt wird. Namentlich Töchter wurden umgebracht. Diese Tödtung geschah durch Aussetzung zumeist (Schömann griech. Alterthümer 1, 562). Bei den alten Deutschen herrschte durchaus derselbe Gebrauch. Aus semitischem Gebiet sei zunächst an Abrahams Opferung Isaaks erinnert, sodann an den Molochdienst der Phönicier, der so vielfach von den Juden nachgeahmt wurde (Winer, bibl. Realwörterbuch unter Moloch) so wie an die der Astarte geschlachteten Kinder (Movers Phön. 2, 2, 69). Allerdings ist der semitische Gebrauch ein religiöser, also zum Kinderopfern gehörig. Doch liesse sich auch für blosses Aussetzen der Kinder manches Semitische beibringen.
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Zitationshilfe: | Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/73>, abgerufen am 07.02.2025. |