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Gessert, Ferdinand: Ueber den Begriff und die Wichtigkeit der Schulzucht besonders für die Volksschulen. Münster, 1826.

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Schulzucht überhaupt hoffen? Wie lange ist es denn
her, daß auf diesen Gegenstand die Aufmerksamkeit
gerichtet ist? Wie viele Behauptungen und Vorschläge
darüber können noch ans Licht kommen besonders
bei größerer Theilnahme und weiterer Erfahrung?

Wollten wir auf demselben Wege uns überzeu-
gen, wie wichtig die Schulzucht sei, so wüßten wir
gleichfalls nicht, woran unser Urtheil sich halten sollte;
denn geschichtlich zeigt sich, daß man ihr einen ver-
schiedenen Werth beigelegt hat. Jn den alten Schu-
len galt eine sehr strenge Disciplin. Unbedingter
Gehorsam war die erste und letzte Foderung an den
Schüler. Unordnung, Unachtsamkeit, Unfleiß wurde
schon in kleinen Aeußerungen hart gerügt; ja durch
Furcht vor Strafen wurden die Lehrgegenstände ein-
geprägt. Freiheit und Munterkeit der Jugend ward
unterdrückt und wol als Sünde behandelt. -- Jn der
letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden
dann die Anstalten, die man Philanthropine genannt
hat. Jn diesen fand die vorige Schulzucht keine Stelle.
Da sollte alles durch Vernunftgründe bewirkt, alles
auf den gesunden Menschenverstand und den guten
Willen der Kinder gebaut werden. Jhren Jugend-
sinn ließ man gewähren; man berechtigte und för-
derte ihn. Selbst der Unterricht wurde zum Spiel.
Strafen schienen ein fast unerlaubter Nothbehelf zu
sein; der Ehrtrieb aber und die mannigfachsten Be-
lohnungen sollten sie unnöthig machen. Diese große
Abweichung von dem Herkömmlichen hatte ihren
Grund in einer verschiedenen Schätzung der Schüler
und des Lehrers. Die ältere Ansicht erklärte die

Schulzucht uͤberhaupt hoffen? Wie lange iſt es denn
her, daß auf dieſen Gegenſtand die Aufmerkſamkeit
gerichtet iſt? Wie viele Behauptungen und Vorſchlaͤge
daruͤber koͤnnen noch ans Licht kommen beſonders
bei groͤßerer Theilnahme und weiterer Erfahrung?

Wollten wir auf demſelben Wege uns uͤberzeu-
gen, wie wichtig die Schulzucht ſei, ſo wuͤßten wir
gleichfalls nicht, woran unſer Urtheil ſich halten ſollte;
denn geſchichtlich zeigt ſich, daß man ihr einen ver-
ſchiedenen Werth beigelegt hat. Jn den alten Schu-
len galt eine ſehr ſtrenge Diſciplin. Unbedingter
Gehorſam war die erſte und letzte Foderung an den
Schuͤler. Unordnung, Unachtſamkeit, Unfleiß wurde
ſchon in kleinen Aeußerungen hart geruͤgt; ja durch
Furcht vor Strafen wurden die Lehrgegenſtaͤnde ein-
gepraͤgt. Freiheit und Munterkeit der Jugend ward
unterdruͤckt und wol als Suͤnde behandelt. — Jn der
letzten Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts entſtanden
dann die Anſtalten, die man Philanthropine genannt
hat. Jn dieſen fand die vorige Schulzucht keine Stelle.
Da ſollte alles durch Vernunftgruͤnde bewirkt, alles
auf den geſunden Menſchenverſtand und den guten
Willen der Kinder gebaut werden. Jhren Jugend-
ſinn ließ man gewaͤhren; man berechtigte und foͤr-
derte ihn. Selbſt der Unterricht wurde zum Spiel.
Strafen ſchienen ein faſt unerlaubter Nothbehelf zu
ſein; der Ehrtrieb aber und die mannigfachſten Be-
lohnungen ſollten ſie unnoͤthig machen. Dieſe große
Abweichung von dem Herkoͤmmlichen hatte ihren
Grund in einer verſchiedenen Schaͤtzung der Schuͤler
und des Lehrers. Die aͤltere Anſicht erklaͤrte die

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[2/0010] Schulzucht uͤberhaupt hoffen? Wie lange iſt es denn her, daß auf dieſen Gegenſtand die Aufmerkſamkeit gerichtet iſt? Wie viele Behauptungen und Vorſchlaͤge daruͤber koͤnnen noch ans Licht kommen beſonders bei groͤßerer Theilnahme und weiterer Erfahrung? Wollten wir auf demſelben Wege uns uͤberzeu- gen, wie wichtig die Schulzucht ſei, ſo wuͤßten wir gleichfalls nicht, woran unſer Urtheil ſich halten ſollte; denn geſchichtlich zeigt ſich, daß man ihr einen ver- ſchiedenen Werth beigelegt hat. Jn den alten Schu- len galt eine ſehr ſtrenge Diſciplin. Unbedingter Gehorſam war die erſte und letzte Foderung an den Schuͤler. Unordnung, Unachtſamkeit, Unfleiß wurde ſchon in kleinen Aeußerungen hart geruͤgt; ja durch Furcht vor Strafen wurden die Lehrgegenſtaͤnde ein- gepraͤgt. Freiheit und Munterkeit der Jugend ward unterdruͤckt und wol als Suͤnde behandelt. — Jn der letzten Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts entſtanden dann die Anſtalten, die man Philanthropine genannt hat. Jn dieſen fand die vorige Schulzucht keine Stelle. Da ſollte alles durch Vernunftgruͤnde bewirkt, alles auf den geſunden Menſchenverſtand und den guten Willen der Kinder gebaut werden. Jhren Jugend- ſinn ließ man gewaͤhren; man berechtigte und foͤr- derte ihn. Selbſt der Unterricht wurde zum Spiel. Strafen ſchienen ein faſt unerlaubter Nothbehelf zu ſein; der Ehrtrieb aber und die mannigfachſten Be- lohnungen ſollten ſie unnoͤthig machen. Dieſe große Abweichung von dem Herkoͤmmlichen hatte ihren Grund in einer verſchiedenen Schaͤtzung der Schuͤler und des Lehrers. Die aͤltere Anſicht erklaͤrte die

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Zitationshilfe: Gessert, Ferdinand: Ueber den Begriff und die Wichtigkeit der Schulzucht besonders für die Volksschulen. Münster, 1826, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessert_schulzucht_1826/10>, abgerufen am 28.03.2024.