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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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Häuser, in die großen Häfen der Seestädte, wo ahnungslose
Kinder schmählich verhandelt wurden. Sie rettete zahllose
Mädchen aus den Händen elender Kupplerinnen, und als sie
schließlich eine Schar von mutigen Mitarbeitern fand, beeinflußte
sie die Gesetze ihres Landes in vorteilhaftester Weise. Sie sah
die staatliche Regulierung der Prostitution ganz richtig als die
moralische Bankerotterklärung des Staates an, aber nicht etwa,
weil bloßes Mitleid ihr Urteil schuf, sondern weil sie auf Grund
unermüdlicher Studien in allen Ländern zu diesem Resultat ge-
kommen war.

Mit der gleichen Energie, mit der sie sich der Gefallenen
annahm, wandten sich andere Frauen den Armen zu. Eine der
bedeutendsten unter ihnen ist Beatrice Potter, jetzt Mrs. Sidney
Webb. Obwohl sie die Tochter eines Eisenbahnkönigs war und
als eine der schönsten Frauen Englands bekannt ist, gab sie ihr
bequemes Leben auf und lebte vier Jahre unerkannt als arme
Arbeiterin im Ostende Londons. Auf Grund ihrer genauen
Kenntnis der Verhältnisse wurde sie berufen, dem Hause der
Lords über das Sweating-System Vortrag zu halten. Heute
stehen sie und ihr Gatte an der Spitze der großen Genossen-
schaftsbewegung, die ganz England umfaßt. Sie hat niemals
die Wohlthätigkeit als Mittel gegen die Armut gepriesen, und
wenn auch zuerst ihr Herz sie zu den Armen führte, so hat ihr
Verstand ihr bald gesagt, daß nur Gerechtigkeit helfen kann.
Sie und viele andere Frauen, selbst solche der vornehmsten
Kreise, sehen die Arbeiterin als gleichberechtigte Genossin an,
mit der sie Hand in Hand gehen. Jhr Solidaritätsgefühl zeigt
sich am besten darin, daß sie häufig Streiks organisieren helfen.
Lady Henry Somerset hat z. B. die streikenden Londoner Dock-
arbeiter dadurch unterstützt, daß sie während des Streiks ihre
Kinder speiste.

An der Politik nehmen die englischen Frauen thätigen An-
teil, was ihnen dadurch erleichtert wird, daß das Gesetz ihnen
in der Bildung politischer Frauenvereine volle Freiheit läßt.
Die englischen Gesetzgeber haben wohl eingesehen, daß sie sich
dem Fluche der Lächerlichkeit aussetzen würden, wenn sie den

Häuser, in die großen Häfen der Seestädte, wo ahnungslose
Kinder schmählich verhandelt wurden. Sie rettete zahllose
Mädchen aus den Händen elender Kupplerinnen, und als sie
schließlich eine Schar von mutigen Mitarbeitern fand, beeinflußte
sie die Gesetze ihres Landes in vorteilhaftester Weise. Sie sah
die staatliche Regulierung der Prostitution ganz richtig als die
moralische Bankerotterklärung des Staates an, aber nicht etwa,
weil bloßes Mitleid ihr Urteil schuf, sondern weil sie auf Grund
unermüdlicher Studien in allen Ländern zu diesem Resultat ge-
kommen war.

Mit der gleichen Energie, mit der sie sich der Gefallenen
annahm, wandten sich andere Frauen den Armen zu. Eine der
bedeutendsten unter ihnen ist Beatrice Potter, jetzt Mrs. Sidney
Webb. Obwohl sie die Tochter eines Eisenbahnkönigs war und
als eine der schönsten Frauen Englands bekannt ist, gab sie ihr
bequemes Leben auf und lebte vier Jahre unerkannt als arme
Arbeiterin im Ostende Londons. Auf Grund ihrer genauen
Kenntnis der Verhältnisse wurde sie berufen, dem Hause der
Lords über das Sweating-System Vortrag zu halten. Heute
stehen sie und ihr Gatte an der Spitze der großen Genossen-
schaftsbewegung, die ganz England umfaßt. Sie hat niemals
die Wohlthätigkeit als Mittel gegen die Armut gepriesen, und
wenn auch zuerst ihr Herz sie zu den Armen führte, so hat ihr
Verstand ihr bald gesagt, daß nur Gerechtigkeit helfen kann.
Sie und viele andere Frauen, selbst solche der vornehmsten
Kreise, sehen die Arbeiterin als gleichberechtigte Genossin an,
mit der sie Hand in Hand gehen. Jhr Solidaritätsgefühl zeigt
sich am besten darin, daß sie häufig Streiks organisieren helfen.
Lady Henry Somerset hat z. B. die streikenden Londoner Dock-
arbeiter dadurch unterstützt, daß sie während des Streiks ihre
Kinder speiste.

An der Politik nehmen die englischen Frauen thätigen An-
teil, was ihnen dadurch erleichtert wird, daß das Gesetz ihnen
in der Bildung politischer Frauenvereine volle Freiheit läßt.
Die englischen Gesetzgeber haben wohl eingesehen, daß sie sich
dem Fluche der Lächerlichkeit aussetzen würden, wenn sie den

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[13/0014] Häuser, in die großen Häfen der Seestädte, wo ahnungslose Kinder schmählich verhandelt wurden. Sie rettete zahllose Mädchen aus den Händen elender Kupplerinnen, und als sie schließlich eine Schar von mutigen Mitarbeitern fand, beeinflußte sie die Gesetze ihres Landes in vorteilhaftester Weise. Sie sah die staatliche Regulierung der Prostitution ganz richtig als die moralische Bankerotterklärung des Staates an, aber nicht etwa, weil bloßes Mitleid ihr Urteil schuf, sondern weil sie auf Grund unermüdlicher Studien in allen Ländern zu diesem Resultat ge- kommen war. Mit der gleichen Energie, mit der sie sich der Gefallenen annahm, wandten sich andere Frauen den Armen zu. Eine der bedeutendsten unter ihnen ist Beatrice Potter, jetzt Mrs. Sidney Webb. Obwohl sie die Tochter eines Eisenbahnkönigs war und als eine der schönsten Frauen Englands bekannt ist, gab sie ihr bequemes Leben auf und lebte vier Jahre unerkannt als arme Arbeiterin im Ostende Londons. Auf Grund ihrer genauen Kenntnis der Verhältnisse wurde sie berufen, dem Hause der Lords über das Sweating-System Vortrag zu halten. Heute stehen sie und ihr Gatte an der Spitze der großen Genossen- schaftsbewegung, die ganz England umfaßt. Sie hat niemals die Wohlthätigkeit als Mittel gegen die Armut gepriesen, und wenn auch zuerst ihr Herz sie zu den Armen führte, so hat ihr Verstand ihr bald gesagt, daß nur Gerechtigkeit helfen kann. Sie und viele andere Frauen, selbst solche der vornehmsten Kreise, sehen die Arbeiterin als gleichberechtigte Genossin an, mit der sie Hand in Hand gehen. Jhr Solidaritätsgefühl zeigt sich am besten darin, daß sie häufig Streiks organisieren helfen. Lady Henry Somerset hat z. B. die streikenden Londoner Dock- arbeiter dadurch unterstützt, daß sie während des Streiks ihre Kinder speiste. An der Politik nehmen die englischen Frauen thätigen An- teil, was ihnen dadurch erleichtert wird, daß das Gesetz ihnen in der Bildung politischer Frauenvereine volle Freiheit läßt. Die englischen Gesetzgeber haben wohl eingesehen, daß sie sich dem Fluche der Lächerlichkeit aussetzen würden, wenn sie den

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/14>, abgerufen am 19.04.2024.