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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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wiesen haben? Oder hat die deutsche Frau sich durch
ihre Pflichtvergessenheit ihre Rechte verscherzt?

Als gute Mutter und gute Hausfrau preist man sie von
Alters her; in jeder Stadt zeugen Dutzende von Wohlthätigkeits-
vereinen, an deren Spitze Frauen stehen, für ihr liebevolles
Herz.

Jch frage aber: ist jede Frau Hausfrau und Mutter?
25 % Mädchen bleiben in Deutschland unverheiratet; rechnen
wir die Witwen und geschiedenen Frauen hinzu, so haben wir
40 % Frauen, die allein im Leben stehen. Bedenken wir weiter,
ob der Beruf der Hausfrau und Mutter das ganze Leben aus-
füllt. Der einzelnen Haushaltung, die früher alle Kräfte in
Anspruch nahm, ist durch die Jndustrie ein großer Teil der
Arbeit abgenommen worden, und es würde noch in weit höherem
Grade geschehen, wenn die Frauen sich alle Erfindungen auf
industriellem Gebiete zu Nutzen machen wollten.

Aber sie gleichen leider häufig jener Dame, die ich kürzlich
sprach. Sie ist Witwe, hat etwas Vermögen, ihre beiden Söhne
sind erwachsen und außer dem Hause. Sie beklagte sich bitter
über ihr vortreffliches Dienstmädchen, das den Fehler habe,
selbständig kochen zu wollen, und fügte hinzu: "Wozu bin ich
denn überhaupt noch da, wenn ich mich nicht einmal um das
Bischen Kochen kümmern soll?!" Was die Mutterpflichten be-
trifft, so giebt es doch auch viele Mütter, die, ähnlich dieser
Frau, keine das Leben ausfüllenden Mutterpflichten mehr haben.
Und es giebt zahllose Frauen, die ihre Mutterpflichten aufs
gröblichste vernachlässigen, nicht etwa weil sie sich mit Politik
beschäftigen, sondern weil sie lediglich ihrem Vergnügen leben
und selbst viel zu unerzogen und viel zu träge sind, um ihre
Kinder überhaupt erziehen zu können. Die größte Masse aber
der Mütter sind solche Frauen, die Dank ihrer wirtschaftlichen
Lage gezwungen sind, ihre Kinder auf der Gasse aufwachsen zu
lassen. Diese Frauen sind es aber auch, die zuerst zu der Er-
kenntnis gekommen sind, daß sie, welche in der Gesellschaft dieselbe
Arbeit leisten wie die Männer, auch dieselben Rechte zu fordern
haben. Auch um ihrer Kinder willen, für die sie sich verantwort-

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wiesen haben? Oder hat die deutsche Frau sich durch
ihre Pflichtvergessenheit ihre Rechte verscherzt?

Als gute Mutter und gute Hausfrau preist man sie von
Alters her; in jeder Stadt zeugen Dutzende von Wohlthätigkeits-
vereinen, an deren Spitze Frauen stehen, für ihr liebevolles
Herz.

Jch frage aber: ist jede Frau Hausfrau und Mutter?
25 % Mädchen bleiben in Deutschland unverheiratet; rechnen
wir die Witwen und geschiedenen Frauen hinzu, so haben wir
40 % Frauen, die allein im Leben stehen. Bedenken wir weiter,
ob der Beruf der Hausfrau und Mutter das ganze Leben aus-
füllt. Der einzelnen Haushaltung, die früher alle Kräfte in
Anspruch nahm, ist durch die Jndustrie ein großer Teil der
Arbeit abgenommen worden, und es würde noch in weit höherem
Grade geschehen, wenn die Frauen sich alle Erfindungen auf
industriellem Gebiete zu Nutzen machen wollten.

Aber sie gleichen leider häufig jener Dame, die ich kürzlich
sprach. Sie ist Witwe, hat etwas Vermögen, ihre beiden Söhne
sind erwachsen und außer dem Hause. Sie beklagte sich bitter
über ihr vortreffliches Dienstmädchen, das den Fehler habe,
selbständig kochen zu wollen, und fügte hinzu: „Wozu bin ich
denn überhaupt noch da, wenn ich mich nicht einmal um das
Bischen Kochen kümmern soll?!‟ Was die Mutterpflichten be-
trifft, so giebt es doch auch viele Mütter, die, ähnlich dieser
Frau, keine das Leben ausfüllenden Mutterpflichten mehr haben.
Und es giebt zahllose Frauen, die ihre Mutterpflichten aufs
gröblichste vernachlässigen, nicht etwa weil sie sich mit Politik
beschäftigen, sondern weil sie lediglich ihrem Vergnügen leben
und selbst viel zu unerzogen und viel zu träge sind, um ihre
Kinder überhaupt erziehen zu können. Die größte Masse aber
der Mütter sind solche Frauen, die Dank ihrer wirtschaftlichen
Lage gezwungen sind, ihre Kinder auf der Gasse aufwachsen zu
lassen. Diese Frauen sind es aber auch, die zuerst zu der Er-
kenntnis gekommen sind, daß sie, welche in der Gesellschaft dieselbe
Arbeit leisten wie die Männer, auch dieselben Rechte zu fordern
haben. Auch um ihrer Kinder willen, für die sie sich verantwort-

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[17/0018] wiesen haben? Oder hat die deutsche Frau sich durch ihre Pflichtvergessenheit ihre Rechte verscherzt? Als gute Mutter und gute Hausfrau preist man sie von Alters her; in jeder Stadt zeugen Dutzende von Wohlthätigkeits- vereinen, an deren Spitze Frauen stehen, für ihr liebevolles Herz. Jch frage aber: ist jede Frau Hausfrau und Mutter? 25 % Mädchen bleiben in Deutschland unverheiratet; rechnen wir die Witwen und geschiedenen Frauen hinzu, so haben wir 40 % Frauen, die allein im Leben stehen. Bedenken wir weiter, ob der Beruf der Hausfrau und Mutter das ganze Leben aus- füllt. Der einzelnen Haushaltung, die früher alle Kräfte in Anspruch nahm, ist durch die Jndustrie ein großer Teil der Arbeit abgenommen worden, und es würde noch in weit höherem Grade geschehen, wenn die Frauen sich alle Erfindungen auf industriellem Gebiete zu Nutzen machen wollten. Aber sie gleichen leider häufig jener Dame, die ich kürzlich sprach. Sie ist Witwe, hat etwas Vermögen, ihre beiden Söhne sind erwachsen und außer dem Hause. Sie beklagte sich bitter über ihr vortreffliches Dienstmädchen, das den Fehler habe, selbständig kochen zu wollen, und fügte hinzu: „Wozu bin ich denn überhaupt noch da, wenn ich mich nicht einmal um das Bischen Kochen kümmern soll?!‟ Was die Mutterpflichten be- trifft, so giebt es doch auch viele Mütter, die, ähnlich dieser Frau, keine das Leben ausfüllenden Mutterpflichten mehr haben. Und es giebt zahllose Frauen, die ihre Mutterpflichten aufs gröblichste vernachlässigen, nicht etwa weil sie sich mit Politik beschäftigen, sondern weil sie lediglich ihrem Vergnügen leben und selbst viel zu unerzogen und viel zu träge sind, um ihre Kinder überhaupt erziehen zu können. Die größte Masse aber der Mütter sind solche Frauen, die Dank ihrer wirtschaftlichen Lage gezwungen sind, ihre Kinder auf der Gasse aufwachsen zu lassen. Diese Frauen sind es aber auch, die zuerst zu der Er- kenntnis gekommen sind, daß sie, welche in der Gesellschaft dieselbe Arbeit leisten wie die Männer, auch dieselben Rechte zu fordern haben. Auch um ihrer Kinder willen, für die sie sich verantwort- 2

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/18>, abgerufen am 28.03.2024.