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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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Ein Fabrikant in Netzschkau erzählte selbst, daß es in seiner
Fabrik die Regel sei, daß die Frau ihre ganze Familie er-
nähre, und zwar durch einen Wochenverdienst von höchstens
15 Mark. Jn Dresden erhalten die Arbeiterinnen einer Zucker-
warenfabrik einen Wochenlohn von 2 bis 4 Mark. Eine
Spitzenklöpplerin aus dem sächsischen Erzgebirge erzählt, daß sie
bei 18 stündiger Arbeitszeit seit zwanzig Jahren nie mehr als
1 Mark wöchentlich verdient habe. Seitdem die Maschinenspitzen
die Handspitzen verdrängt haben und auch Amerika seinen Be-
darf an Spitzen selbst produziert, haben die Klöpplerinnen sich
zum Teil der Posamentenarbeit zugewandt. Sehr geschickten
Arbeiterinnen gelingt es während der drei bis vier Monate
dauernden hohen Saison 7 bis 8 Mark wöchentlich zu ver-
dienen. Es versteht sich, daß, um nur etwas für die arbeits-
lose Zeit zurückzulegen, die ganze Familie, von den vier- und
fünfjährigen Kindern an bis zu den Greisen, mitarbeiten muß.
Dabei sind oft zehn, zwölf Personen auf einen Raum von vier
Quadratmetern angewiesen, den sie zum Schlafen, Arbeiten und
Kochen zugleich benutzen. Am 14. Mai 1885 wurde der Reichs-
tagsbeschluß gefaßt, festzustellen, welche Lohnbeträge den Frauen
gezahlt werden. Dabei fand sich, daß z. B. Berliner Fabrik-
näherinnen 15-20 Mark für den Monat verdienten; in der
Damenkonfektion wurden 8-10 Mark monatlich, für Nähen
von Kinderhosen u. s. w. wurde für das Dutzend 3-5 Mark,
für Nähen von Arbeiterhosen 11/2-2 Mark bezahlt (macht für
die Hose 13-16 Pfennig!). Jn einer Strohhutfabrik wurde den
Arbeiterinnen 2-3 Mark, in einer königlichen Buchdruckerei
5-6 Mark Wochenlohn gewährt.

Es giebt kaum ein Stück unserer Kleidung, an dem nicht
der Schweiß abgearbeiteter Frauen klebt: zu dem Schmuck
unseres Hauses, zu den Genüssen unserer Tafel hat die Arbeit
hungernder, geschändeter Mädchen beigetragen. Ja, wir ent-
blöden uns nicht, die Schande zu züchten, indem mir für unsere
Säuglinge die Lebenskraft armer Mädchen begehren.

Und nun frage ich Euch, meine Schwestern, habt Jhr
wirklich nichts zu thun für Euer Geschlecht?

Ein Fabrikant in Netzschkau erzählte selbst, daß es in seiner
Fabrik die Regel sei, daß die Frau ihre ganze Familie er-
nähre, und zwar durch einen Wochenverdienst von höchstens
15 Mark. Jn Dresden erhalten die Arbeiterinnen einer Zucker-
warenfabrik einen Wochenlohn von 2 bis 4 Mark. Eine
Spitzenklöpplerin aus dem sächsischen Erzgebirge erzählt, daß sie
bei 18 stündiger Arbeitszeit seit zwanzig Jahren nie mehr als
1 Mark wöchentlich verdient habe. Seitdem die Maschinenspitzen
die Handspitzen verdrängt haben und auch Amerika seinen Be-
darf an Spitzen selbst produziert, haben die Klöpplerinnen sich
zum Teil der Posamentenarbeit zugewandt. Sehr geschickten
Arbeiterinnen gelingt es während der drei bis vier Monate
dauernden hohen Saison 7 bis 8 Mark wöchentlich zu ver-
dienen. Es versteht sich, daß, um nur etwas für die arbeits-
lose Zeit zurückzulegen, die ganze Familie, von den vier- und
fünfjährigen Kindern an bis zu den Greisen, mitarbeiten muß.
Dabei sind oft zehn, zwölf Personen auf einen Raum von vier
Quadratmetern angewiesen, den sie zum Schlafen, Arbeiten und
Kochen zugleich benutzen. Am 14. Mai 1885 wurde der Reichs-
tagsbeschluß gefaßt, festzustellen, welche Lohnbeträge den Frauen
gezahlt werden. Dabei fand sich, daß z. B. Berliner Fabrik-
näherinnen 15–20 Mark für den Monat verdienten; in der
Damenkonfektion wurden 8–10 Mark monatlich, für Nähen
von Kinderhosen u. s. w. wurde für das Dutzend 3–5 Mark,
für Nähen von Arbeiterhosen 1½–2 Mark bezahlt (macht für
die Hose 13–16 Pfennig!). Jn einer Strohhutfabrik wurde den
Arbeiterinnen 2–3 Mark, in einer königlichen Buchdruckerei
5–6 Mark Wochenlohn gewährt.

Es giebt kaum ein Stück unserer Kleidung, an dem nicht
der Schweiß abgearbeiteter Frauen klebt: zu dem Schmuck
unseres Hauses, zu den Genüssen unserer Tafel hat die Arbeit
hungernder, geschändeter Mädchen beigetragen. Ja, wir ent-
blöden uns nicht, die Schande zu züchten, indem mir für unsere
Säuglinge die Lebenskraft armer Mädchen begehren.

Und nun frage ich Euch, meine Schwestern, habt Jhr
wirklich nichts zu thun für Euer Geschlecht?

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[21/0022] Ein Fabrikant in Netzschkau erzählte selbst, daß es in seiner Fabrik die Regel sei, daß die Frau ihre ganze Familie er- nähre, und zwar durch einen Wochenverdienst von höchstens 15 Mark. Jn Dresden erhalten die Arbeiterinnen einer Zucker- warenfabrik einen Wochenlohn von 2 bis 4 Mark. Eine Spitzenklöpplerin aus dem sächsischen Erzgebirge erzählt, daß sie bei 18 stündiger Arbeitszeit seit zwanzig Jahren nie mehr als 1 Mark wöchentlich verdient habe. Seitdem die Maschinenspitzen die Handspitzen verdrängt haben und auch Amerika seinen Be- darf an Spitzen selbst produziert, haben die Klöpplerinnen sich zum Teil der Posamentenarbeit zugewandt. Sehr geschickten Arbeiterinnen gelingt es während der drei bis vier Monate dauernden hohen Saison 7 bis 8 Mark wöchentlich zu ver- dienen. Es versteht sich, daß, um nur etwas für die arbeits- lose Zeit zurückzulegen, die ganze Familie, von den vier- und fünfjährigen Kindern an bis zu den Greisen, mitarbeiten muß. Dabei sind oft zehn, zwölf Personen auf einen Raum von vier Quadratmetern angewiesen, den sie zum Schlafen, Arbeiten und Kochen zugleich benutzen. Am 14. Mai 1885 wurde der Reichs- tagsbeschluß gefaßt, festzustellen, welche Lohnbeträge den Frauen gezahlt werden. Dabei fand sich, daß z. B. Berliner Fabrik- näherinnen 15–20 Mark für den Monat verdienten; in der Damenkonfektion wurden 8–10 Mark monatlich, für Nähen von Kinderhosen u. s. w. wurde für das Dutzend 3–5 Mark, für Nähen von Arbeiterhosen 1½–2 Mark bezahlt (macht für die Hose 13–16 Pfennig!). Jn einer Strohhutfabrik wurde den Arbeiterinnen 2–3 Mark, in einer königlichen Buchdruckerei 5–6 Mark Wochenlohn gewährt. Es giebt kaum ein Stück unserer Kleidung, an dem nicht der Schweiß abgearbeiteter Frauen klebt: zu dem Schmuck unseres Hauses, zu den Genüssen unserer Tafel hat die Arbeit hungernder, geschändeter Mädchen beigetragen. Ja, wir ent- blöden uns nicht, die Schande zu züchten, indem mir für unsere Säuglinge die Lebenskraft armer Mädchen begehren. Und nun frage ich Euch, meine Schwestern, habt Jhr wirklich nichts zu thun für Euer Geschlecht?

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/22>, abgerufen am 24.04.2024.