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Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895.

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hundert Jahren diesen Einwand zurückgewiesen, indem er sagte:
"Jch gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch
wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: ein ge-
wisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit
begriffen ist) ist zur Freiheit noch nicht reif . . . Nach einer
solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn
man kann nicht zu ihr reifen, wenn man nicht zuvor in
Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner
Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die
ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem
beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als
da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge
Anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders
als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man
frei sein muß)."1)

Und so verlangen wir denn freie Bahn für unsere Ent-
wickelung um unserer selbst und um der leidenden Menschheit
willen.

Wir verlangen durchgreifende Änderung der Vereinsgesetze,
die in keinem anderen Lande den Frauen solche Fesseln anlegen,
wie in Deutschland.

Wir verlangen Anwendung der Prinzipien des modernen
Staates -- der allgemeinen Menschenrechte -- auch auf die
andere Hälfte der Menschheit, die Frauen.

Wir, eine Armee von Millionen und Abermillionen Frauen,
die wir unsere Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen
so gut wie der Mann, verlangen unser Recht, an der Ge-
staltung der Allgemeinheit mitzuarbeiten.

Die Frauenbewegung, von der ich in flüchtigen Umrissen
ein Bild zu entwerfen versuchte, ist einerseits aus der stetig
fortschreitenden Umwandlung des Kleinbetriebes in den Groß-
betrieb, andererseits aus dem moralischen und intellektuellen

1) "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft." 1793. 6. Bd.
der Hartensteinschen Ausgabe von Kants Werken. S. 287.

hundert Jahren diesen Einwand zurückgewiesen, indem er sagte:
„Jch gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch
wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: ein ge-
wisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit
begriffen ist) ist zur Freiheit noch nicht reif . . . Nach einer
solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn
man kann nicht zu ihr reifen, wenn man nicht zuvor in
Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner
Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die
ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem
beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als
da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge
Anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders
als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man
frei sein muß).‟1)

Und so verlangen wir denn freie Bahn für unsere Ent-
wickelung um unserer selbst und um der leidenden Menschheit
willen.

Wir verlangen durchgreifende Änderung der Vereinsgesetze,
die in keinem anderen Lande den Frauen solche Fesseln anlegen,
wie in Deutschland.

Wir verlangen Anwendung der Prinzipien des modernen
Staates — der allgemeinen Menschenrechte — auch auf die
andere Hälfte der Menschheit, die Frauen.

Wir, eine Armee von Millionen und Abermillionen Frauen,
die wir unsere Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen
so gut wie der Mann, verlangen unser Recht, an der Ge-
staltung der Allgemeinheit mitzuarbeiten.

Die Frauenbewegung, von der ich in flüchtigen Umrissen
ein Bild zu entwerfen versuchte, ist einerseits aus der stetig
fortschreitenden Umwandlung des Kleinbetriebes in den Groß-
betrieb, andererseits aus dem moralischen und intellektuellen

1) „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.‟ 1793. 6. Bd.
der Hartensteinschen Ausgabe von Kants Werken. S. 287.
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[23/0024] hundert Jahren diesen Einwand zurückgewiesen, indem er sagte: „Jch gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: ein ge- wisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit noch nicht reif . . . Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann nicht zu ihr reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge Anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß).‟ 1) Und so verlangen wir denn freie Bahn für unsere Ent- wickelung um unserer selbst und um der leidenden Menschheit willen. Wir verlangen durchgreifende Änderung der Vereinsgesetze, die in keinem anderen Lande den Frauen solche Fesseln anlegen, wie in Deutschland. Wir verlangen Anwendung der Prinzipien des modernen Staates — der allgemeinen Menschenrechte — auch auf die andere Hälfte der Menschheit, die Frauen. Wir, eine Armee von Millionen und Abermillionen Frauen, die wir unsere Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen so gut wie der Mann, verlangen unser Recht, an der Ge- staltung der Allgemeinheit mitzuarbeiten. Die Frauenbewegung, von der ich in flüchtigen Umrissen ein Bild zu entwerfen versuchte, ist einerseits aus der stetig fortschreitenden Umwandlung des Kleinbetriebes in den Groß- betrieb, andererseits aus dem moralischen und intellektuellen 1) „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.‟ 1793. 6. Bd. der Hartensteinschen Ausgabe von Kants Werken. S. 287.

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Zitationshilfe: Gizycki, Lily von: Die Bürgerpflicht der Frau. Berlin, 1895, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gizycki_buergerpflicht_1895/24>, abgerufen am 24.04.2024.