Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

1. B. 1. Tit.
Wahrheit widersprechen wollen 95). Noch viel wenigern
Zweifel aber ist die Sache nach den kanonischen und
heutigen teutschen Rechten unterworffen. Denn so will
das kanonische Recht, welches in proceßualischen Ma-
terien dem römischen Rechte vorzuziehen ist, ausdrück-
lich, daß nicht mit Spitzfindigkeit untersucht werden sol-
le, was für eine Klage angestellet sey, sondern es soll
nur auf die Sache selbst Rücksicht genommen werden,
cap. 6. X. de iudiciis 96). Die Teutschen endlich ha-
ben nie eine festgesezte Anzahl der Klagen gehabt, sagt
einer unserer berühmtesten heutigen Rechtsgelehrten 97),
sondern die Verbindlichkeiten blos nach der natürlichen
Billigkeit abgemessen. Nie aber ist der römische Pro-
ceß, am wenigsten das Formularrecht, zur Anwendung
gekommen. Die heutigen Rechtslehrer tragen daher mit
Recht kein Bedenken, da aus der natürlichen Billigkeit
Klagen zu verstatten, wo die römischen Gesetze keine
eingeführt haben 98). Inzwischen dürfen auch hier die
Grenzen nicht überschritten werden. Soll nehmlich eine
Klage in einem Fall, wo weder aus den Worten noch

aus
95) Noch mehrere Beweisstellen hat H. Prof. Weber a. a.
Ort §. 46. S. 126. gesammlet.
96) Die Worte dieses cap. verdienen selbst hier angeführt
zu werden: Provideamus attentius, ne ita subtiliter, sicut
a multis fieri solet, cuiusmodi actio intentetur, inquiratis,
sed simpliciter et pure
factum ipsum, et rei verita-
tem
secundum formam canonum, et sanctorum patrum in-
stituta, investigare curetis.
97) D. Just. Claproth Einleitung in den ordent-
lichen bürgerlichen Proces
(Göttingen 1786.)
1. Th. 1. Abschn. 1. Hauptst. §. 1. not. b. S. 2. u. f.
98) So z. B. verstatten Huber in Praelect. ad Insti-
tut
. tit. de Rer. divis.
§. 40. und Heineccius in Elem-
iur-

1. B. 1. Tit.
Wahrheit widerſprechen wollen 95). Noch viel wenigern
Zweifel aber iſt die Sache nach den kanoniſchen und
heutigen teutſchen Rechten unterworffen. Denn ſo will
das kanoniſche Recht, welches in proceßualiſchen Ma-
terien dem roͤmiſchen Rechte vorzuziehen iſt, ausdruͤck-
lich, daß nicht mit Spitzfindigkeit unterſucht werden ſol-
le, was fuͤr eine Klage angeſtellet ſey, ſondern es ſoll
nur auf die Sache ſelbſt Ruͤckſicht genommen werden,
cap. 6. X. de iudiciis 96). Die Teutſchen endlich ha-
ben nie eine feſtgeſezte Anzahl der Klagen gehabt, ſagt
einer unſerer beruͤhmteſten heutigen Rechtsgelehrten 97),
ſondern die Verbindlichkeiten blos nach der natuͤrlichen
Billigkeit abgemeſſen. Nie aber iſt der roͤmiſche Pro-
ceß, am wenigſten das Formularrecht, zur Anwendung
gekommen. Die heutigen Rechtslehrer tragen daher mit
Recht kein Bedenken, da aus der natuͤrlichen Billigkeit
Klagen zu verſtatten, wo die roͤmiſchen Geſetze keine
eingefuͤhrt haben 98). Inzwiſchen duͤrfen auch hier die
Grenzen nicht uͤberſchritten werden. Soll nehmlich eine
Klage in einem Fall, wo weder aus den Worten noch

aus
95) Noch mehrere Beweisſtellen hat H. Prof. Weber a. a.
Ort §. 46. S. 126. geſammlet.
96) Die Worte dieſes cap. verdienen ſelbſt hier angefuͤhrt
zu werden: Provideamus attentius, ne ita ſubtiliter, ſicut
a multis fieri ſolet, cuiusmodi actio intentetur, inquiratis,
ſed ſimpliciter et pure
factum ipsum, et rei verita-
tem
ſecundum formam canonum, et ſanctorum patrum in-
ſtituta, inveſtigare curetis.
97) D. Juſt. Claproth Einleitung in den ordent-
lichen buͤrgerlichen Proces
(Goͤttingen 1786.)
1. Th. 1. Abſchn. 1. Hauptſt. §. 1. not. b. S. 2. u. f.
98) So z. B. verſtatten Huber in Praelect. ad Inſti-
tut
. tit. de Rer. diviſ.
§. 40. und Heineccius in Elem-
iur-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0196" n="176"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr">1. B. 1. Tit.</hi></fw><lb/>
Wahrheit wider&#x017F;prechen wollen <note place="foot" n="95)">Noch mehrere Beweis&#x017F;tellen hat H. Prof. <hi rendition="#fr">Weber</hi> a. a.<lb/>
Ort §. 46. S. 126. ge&#x017F;ammlet.</note>. Noch viel wenigern<lb/>
Zweifel aber i&#x017F;t die Sache nach den kanoni&#x017F;chen und<lb/>
heutigen teut&#x017F;chen Rechten unterworffen. Denn &#x017F;o will<lb/>
das <hi rendition="#g">kanoni&#x017F;che</hi> Recht, welches in proceßuali&#x017F;chen Ma-<lb/>
terien dem ro&#x0364;mi&#x017F;chen Rechte vorzuziehen i&#x017F;t, ausdru&#x0364;ck-<lb/>
lich, daß nicht mit Spitzfindigkeit unter&#x017F;ucht werden &#x017F;ol-<lb/>
le, was fu&#x0364;r eine Klage ange&#x017F;tellet &#x017F;ey, &#x017F;ondern es &#x017F;oll<lb/>
nur auf die <hi rendition="#g">Sache</hi> &#x017F;elb&#x017F;t Ru&#x0364;ck&#x017F;icht genommen werden,<lb/><hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">cap. 6. X. de iudiciis</hi></hi> <note place="foot" n="96)">Die Worte die&#x017F;es <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">cap.</hi></hi> verdienen &#x017F;elb&#x017F;t hier angefu&#x0364;hrt<lb/>
zu werden: <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">Provideamus attentius, ne ita &#x017F;ubtiliter, &#x017F;icut<lb/>
a multis fieri &#x017F;olet, cuiusmodi actio intentetur, inquiratis,<lb/>
&#x017F;ed &#x017F;impliciter et pure</hi><hi rendition="#k">factum ipsum,</hi><hi rendition="#i">et</hi><hi rendition="#k">rei verita-<lb/>
tem</hi><hi rendition="#i">&#x017F;ecundum formam canonum, et &#x017F;anctorum patrum in-<lb/>
&#x017F;tituta, inve&#x017F;tigare curetis.</hi></hi></note>. Die Teut&#x017F;chen endlich ha-<lb/>
ben nie eine fe&#x017F;tge&#x017F;ezte Anzahl der Klagen gehabt, &#x017F;agt<lb/>
einer un&#x017F;erer beru&#x0364;hmte&#x017F;ten heutigen Rechtsgelehrten <note place="foot" n="97)"><hi rendition="#aq">D.</hi> Ju&#x017F;t. Claproth <hi rendition="#g">Einleitung in den ordent-<lb/>
lichen bu&#x0364;rgerlichen Proces</hi> (Go&#x0364;ttingen 1786.)<lb/>
1. Th. 1. Ab&#x017F;chn. 1. Haupt&#x017F;t. §. 1. <hi rendition="#aq">not. b.</hi> S. 2. u. f.</note>,<lb/>
&#x017F;ondern die Verbindlichkeiten blos nach der natu&#x0364;rlichen<lb/>
Billigkeit abgeme&#x017F;&#x017F;en. Nie aber i&#x017F;t der ro&#x0364;mi&#x017F;che Pro-<lb/>
ceß, am wenig&#x017F;ten das Formularrecht, zur Anwendung<lb/>
gekommen. Die heutigen Rechtslehrer tragen daher mit<lb/>
Recht kein Bedenken, da aus der natu&#x0364;rlichen Billigkeit<lb/>
Klagen zu ver&#x017F;tatten, wo die ro&#x0364;mi&#x017F;chen Ge&#x017F;etze keine<lb/>
eingefu&#x0364;hrt haben <note xml:id="seg2pn_17_1" next="#seg2pn_17_2" place="foot" n="98)">So z. B. ver&#x017F;tatten Huber <hi rendition="#aq">in <hi rendition="#g">Praelect. ad In&#x017F;ti-<lb/>
tut</hi>. <hi rendition="#i">tit. de Rer. divi&#x017F;.</hi></hi> §. 40. und <hi rendition="#fr">Heineccius</hi> <hi rendition="#aq">in <hi rendition="#g">Elem-</hi></hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">iur-</hi></hi></fw></note>. Inzwi&#x017F;chen du&#x0364;rfen auch hier die<lb/>
Grenzen nicht u&#x0364;ber&#x017F;chritten werden. Soll nehmlich eine<lb/>
Klage in einem Fall, wo weder aus den Worten noch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">aus</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0196] 1. B. 1. Tit. Wahrheit widerſprechen wollen 95). Noch viel wenigern Zweifel aber iſt die Sache nach den kanoniſchen und heutigen teutſchen Rechten unterworffen. Denn ſo will das kanoniſche Recht, welches in proceßualiſchen Ma- terien dem roͤmiſchen Rechte vorzuziehen iſt, ausdruͤck- lich, daß nicht mit Spitzfindigkeit unterſucht werden ſol- le, was fuͤr eine Klage angeſtellet ſey, ſondern es ſoll nur auf die Sache ſelbſt Ruͤckſicht genommen werden, cap. 6. X. de iudiciis 96). Die Teutſchen endlich ha- ben nie eine feſtgeſezte Anzahl der Klagen gehabt, ſagt einer unſerer beruͤhmteſten heutigen Rechtsgelehrten 97), ſondern die Verbindlichkeiten blos nach der natuͤrlichen Billigkeit abgemeſſen. Nie aber iſt der roͤmiſche Pro- ceß, am wenigſten das Formularrecht, zur Anwendung gekommen. Die heutigen Rechtslehrer tragen daher mit Recht kein Bedenken, da aus der natuͤrlichen Billigkeit Klagen zu verſtatten, wo die roͤmiſchen Geſetze keine eingefuͤhrt haben 98). Inzwiſchen duͤrfen auch hier die Grenzen nicht uͤberſchritten werden. Soll nehmlich eine Klage in einem Fall, wo weder aus den Worten noch aus 95) Noch mehrere Beweisſtellen hat H. Prof. Weber a. a. Ort §. 46. S. 126. geſammlet. 96) Die Worte dieſes cap. verdienen ſelbſt hier angefuͤhrt zu werden: Provideamus attentius, ne ita ſubtiliter, ſicut a multis fieri ſolet, cuiusmodi actio intentetur, inquiratis, ſed ſimpliciter et pure factum ipsum, et rei verita- tem ſecundum formam canonum, et ſanctorum patrum in- ſtituta, inveſtigare curetis. 97) D. Juſt. Claproth Einleitung in den ordent- lichen buͤrgerlichen Proces (Goͤttingen 1786.) 1. Th. 1. Abſchn. 1. Hauptſt. §. 1. not. b. S. 2. u. f. 98) So z. B. verſtatten Huber in Praelect. ad Inſti- tut. tit. de Rer. diviſ. §. 40. und Heineccius in Elem- iur-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/196
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/196>, abgerufen am 29.04.2024.