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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

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1. Buch. 3. Tit.
oder Mitleid und Menschengefühl, wenn gleich von meh-
rern, und zu wiederholtenmahlen geschehen, keine ver-
bindliche
Gewohnheit begründet werden könne. Man
setze also, es sey an einem Orte einigemahl geschehen,
daß der Guthsbesitzer das in seinem Eigenthum gefun-
dene und von den Eltern ausgesetzte Kind aus Mitleid
aufgenommen, solches ernährt und erzogen hätte, so
lässet sich hieraus eben so wenig eine verbindliche Regel,
daß jeder Eigenthümer die in seinen Grundstücken aus-
gesetzte Findelkinder zu verpflegen schuldig sey, herleiten,
als in einem andern Falle, wenn nämlich an einem Orte,
wo das Nachbarrecht gesetzlich nicht eingeführt ist, zu-
weilen der Käufer das erkaufte Grundstück dem Nachbar
des Verkäufers aus Freundschaft für dasselbe Geld, was
es ihm gekostet, wieder überlassen hätte, behauptet wer-
den könnte, daß dem Nachbar der Retract vermöge eines
Gewohnheitsrechts an diesem Orte zustehe. Ob jedoch
Handlungen blos aus gutem Willen, oder in der Mei-
nung einer Verbindlichkeit geschehen, ist theils aus der
Beschaffenheit der Handlungen selbst, theils aus dem
Grunde, warum eine Gewohnheit eingeführt worden,
(ratio, quae consuetudinem suasit, sagt K. Alexander 91)
theils aus der Länge der Zeit, theils aus dem nie erfolg-
ten, oder nicht geachteten Widerspruche, theils aus den
darauf gegründeten rechtskräftigen Erkenntnissen zu be-
urtheilen, auf welches letztere uns Ulpian oben ange-
führtermassen ganz vorzüglich verweiset. Noch eins muß
ich hierbey anmerken. Wenn ich moralisch noth-
wendige
Handlungen zur Einführung einer verbind-
lichen Gewohnheit erfordere, so folgt, daß alle unfrey-
willige,
durch unerlaubten Zwang veranlaßte, oder

auf
91) L. 1. Cod. quae sit longa consuetudo.

1. Buch. 3. Tit.
oder Mitleid und Menſchengefuͤhl, wenn gleich von meh-
rern, und zu wiederholtenmahlen geſchehen, keine ver-
bindliche
Gewohnheit begruͤndet werden koͤnne. Man
ſetze alſo, es ſey an einem Orte einigemahl geſchehen,
daß der Guthsbeſitzer das in ſeinem Eigenthum gefun-
dene und von den Eltern ausgeſetzte Kind aus Mitleid
aufgenommen, ſolches ernaͤhrt und erzogen haͤtte, ſo
laͤſſet ſich hieraus eben ſo wenig eine verbindliche Regel,
daß jeder Eigenthuͤmer die in ſeinen Grundſtuͤcken aus-
geſetzte Findelkinder zu verpflegen ſchuldig ſey, herleiten,
als in einem andern Falle, wenn naͤmlich an einem Orte,
wo das Nachbarrecht geſetzlich nicht eingefuͤhrt iſt, zu-
weilen der Kaͤufer das erkaufte Grundſtuͤck dem Nachbar
des Verkaͤufers aus Freundſchaft fuͤr daſſelbe Geld, was
es ihm gekoſtet, wieder uͤberlaſſen haͤtte, behauptet wer-
den koͤnnte, daß dem Nachbar der Retract vermoͤge eines
Gewohnheitsrechts an dieſem Orte zuſtehe. Ob jedoch
Handlungen blos aus gutem Willen, oder in der Mei-
nung einer Verbindlichkeit geſchehen, iſt theils aus der
Beſchaffenheit der Handlungen ſelbſt, theils aus dem
Grunde, warum eine Gewohnheit eingefuͤhrt worden,
(ratio, quae conſuetudinem ſuaſit, ſagt K. Alexander 91)
theils aus der Laͤnge der Zeit, theils aus dem nie erfolg-
ten, oder nicht geachteten Widerſpruche, theils aus den
darauf gegruͤndeten rechtskraͤftigen Erkenntniſſen zu be-
urtheilen, auf welches letztere uns Ulpian oben ange-
fuͤhrtermaſſen ganz vorzuͤglich verweiſet. Noch eins muß
ich hierbey anmerken. Wenn ich moraliſch noth-
wendige
Handlungen zur Einfuͤhrung einer verbind-
lichen Gewohnheit erfordere, ſo folgt, daß alle unfrey-
willige,
durch unerlaubten Zwang veranlaßte, oder

auf
91) L. 1. Cod. quae ſit longa conſuetudo.
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[450/0470] 1. Buch. 3. Tit. oder Mitleid und Menſchengefuͤhl, wenn gleich von meh- rern, und zu wiederholtenmahlen geſchehen, keine ver- bindliche Gewohnheit begruͤndet werden koͤnne. Man ſetze alſo, es ſey an einem Orte einigemahl geſchehen, daß der Guthsbeſitzer das in ſeinem Eigenthum gefun- dene und von den Eltern ausgeſetzte Kind aus Mitleid aufgenommen, ſolches ernaͤhrt und erzogen haͤtte, ſo laͤſſet ſich hieraus eben ſo wenig eine verbindliche Regel, daß jeder Eigenthuͤmer die in ſeinen Grundſtuͤcken aus- geſetzte Findelkinder zu verpflegen ſchuldig ſey, herleiten, als in einem andern Falle, wenn naͤmlich an einem Orte, wo das Nachbarrecht geſetzlich nicht eingefuͤhrt iſt, zu- weilen der Kaͤufer das erkaufte Grundſtuͤck dem Nachbar des Verkaͤufers aus Freundſchaft fuͤr daſſelbe Geld, was es ihm gekoſtet, wieder uͤberlaſſen haͤtte, behauptet wer- den koͤnnte, daß dem Nachbar der Retract vermoͤge eines Gewohnheitsrechts an dieſem Orte zuſtehe. Ob jedoch Handlungen blos aus gutem Willen, oder in der Mei- nung einer Verbindlichkeit geſchehen, iſt theils aus der Beſchaffenheit der Handlungen ſelbſt, theils aus dem Grunde, warum eine Gewohnheit eingefuͤhrt worden, (ratio, quae conſuetudinem ſuaſit, ſagt K. Alexander 91) theils aus der Laͤnge der Zeit, theils aus dem nie erfolg- ten, oder nicht geachteten Widerſpruche, theils aus den darauf gegruͤndeten rechtskraͤftigen Erkenntniſſen zu be- urtheilen, auf welches letztere uns Ulpian oben ange- fuͤhrtermaſſen ganz vorzuͤglich verweiſet. Noch eins muß ich hierbey anmerken. Wenn ich moraliſch noth- wendige Handlungen zur Einfuͤhrung einer verbind- lichen Gewohnheit erfordere, ſo folgt, daß alle unfrey- willige, durch unerlaubten Zwang veranlaßte, oder auf 91) L. 1. Cod. quae ſit longa conſuetudo.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/470>, abgerufen am 22.05.2024.