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Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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nicht ein. Dazu war sie zu sehr Bearnerin, das heißt, von jeher gewöhnt, den Schein zu retten, und immer bedacht, nicht zu zerreißen, was gelös't werden kann. So ließ sie denn den ganzen Abend Vorwürfe und Sticheleien der Verwandten -- die Alle der Ansicht waren, sie hätte den Henriot festhalten müssen, -- über sich ergehen, machte keine Einwendungen, als der Stiefvater die ganze Familie auf den nächsten Sonntag zur Nachfeier der Verlobung nach der Obermühle einlud, war aber, ehe sie einschlief, vollkommen mit sich im Klaren, daß aus dieser Nachfeier nichts werden dürfe.

Und kaum war am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen, als Claudine, in ein dunkles Capuchon verhüllt, aus dem Hause schlüpfte, zwischen den leeren Buden quer über den Dorfplatz eilte und das Seitengäßchen einschlug, das zwischen Kirschlorbeer- und Buchsbaumhecken zu einer elenden, kleinen Hütte führte. Das einzige Fenster derselben war, seit ein Sturm den Laden zertrümmert hatte, mit Brettern vernagelt -- den neumodischen Luxus eines Glasfensters hatte dies Häuschen nie gekannt; aber wenn, wie jetzt, die Thür geöffnet war und im Kamin ein flackerndes Rebholzfeuer brannte, konnte man, wie sein Eigenthümer, der Cadet Caduchon, behauptete, in dem verräucherten Raum deutlich genug sehen, um den Kessel von der Pfanne zu unterscheiden, und was brauchte er mehr?

Der lustige Alte hatte das auch jetzt geübt; er stand am Feuer, rührte seine Broyo (Maismehlbrei)

nicht ein. Dazu war sie zu sehr Béarnerin, das heißt, von jeher gewöhnt, den Schein zu retten, und immer bedacht, nicht zu zerreißen, was gelös't werden kann. So ließ sie denn den ganzen Abend Vorwürfe und Sticheleien der Verwandten — die Alle der Ansicht waren, sie hätte den Henriot festhalten müssen, — über sich ergehen, machte keine Einwendungen, als der Stiefvater die ganze Familie auf den nächsten Sonntag zur Nachfeier der Verlobung nach der Obermühle einlud, war aber, ehe sie einschlief, vollkommen mit sich im Klaren, daß aus dieser Nachfeier nichts werden dürfe.

Und kaum war am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen, als Claudine, in ein dunkles Capuchon verhüllt, aus dem Hause schlüpfte, zwischen den leeren Buden quer über den Dorfplatz eilte und das Seitengäßchen einschlug, das zwischen Kirschlorbeer- und Buchsbaumhecken zu einer elenden, kleinen Hütte führte. Das einzige Fenster derselben war, seit ein Sturm den Laden zertrümmert hatte, mit Brettern vernagelt — den neumodischen Luxus eines Glasfensters hatte dies Häuschen nie gekannt; aber wenn, wie jetzt, die Thür geöffnet war und im Kamin ein flackerndes Rebholzfeuer brannte, konnte man, wie sein Eigenthümer, der Cadet Caduchon, behauptete, in dem verräucherten Raum deutlich genug sehen, um den Kessel von der Pfanne zu unterscheiden, und was brauchte er mehr?

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[0049] nicht ein. Dazu war sie zu sehr Béarnerin, das heißt, von jeher gewöhnt, den Schein zu retten, und immer bedacht, nicht zu zerreißen, was gelös't werden kann. So ließ sie denn den ganzen Abend Vorwürfe und Sticheleien der Verwandten — die Alle der Ansicht waren, sie hätte den Henriot festhalten müssen, — über sich ergehen, machte keine Einwendungen, als der Stiefvater die ganze Familie auf den nächsten Sonntag zur Nachfeier der Verlobung nach der Obermühle einlud, war aber, ehe sie einschlief, vollkommen mit sich im Klaren, daß aus dieser Nachfeier nichts werden dürfe. Und kaum war am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen, als Claudine, in ein dunkles Capuchon verhüllt, aus dem Hause schlüpfte, zwischen den leeren Buden quer über den Dorfplatz eilte und das Seitengäßchen einschlug, das zwischen Kirschlorbeer- und Buchsbaumhecken zu einer elenden, kleinen Hütte führte. Das einzige Fenster derselben war, seit ein Sturm den Laden zertrümmert hatte, mit Brettern vernagelt — den neumodischen Luxus eines Glasfensters hatte dies Häuschen nie gekannt; aber wenn, wie jetzt, die Thür geöffnet war und im Kamin ein flackerndes Rebholzfeuer brannte, konnte man, wie sein Eigenthümer, der Cadet Caduchon, behauptete, in dem verräucherten Raum deutlich genug sehen, um den Kessel von der Pfanne zu unterscheiden, und was brauchte er mehr? Der lustige Alte hatte das auch jetzt geübt; er stand am Feuer, rührte seine Broyo (Maismehlbrei)

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:29:37Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gluemer_arm_1910/49>, abgerufen am 28.03.2024.