Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

schauer, und des Frostes starre Herbigkeit, und es war
ein ahndend Sehnen in dem Gemüthe aller Dinge
und ein freudig sinnend Verlangen in allem Irdischen,
als das Mittelalter begann. Ein großer Erdenfrühling
war über den Welttheil ausgebreitet; der schöne Garten
in Griechenland, das zweite Paradies, war wohl zer-
stört, und bald trat ein Cherub mit dem Flammen-
schwerd von Mahomed ausgesendet vor den Eingang
hin; die Palläste der Römersiadt waren wohl geschleift
und der große Thurm umgeworfen, der aller Völker
Sprachen verbinden sollte: aber der ganze weite Welt-
theil, der wüst gelegen hatte und verwildert, während
jene Kunstgärten blühten, war nun auch wegsam und
zugänglich und angepflanzt geworden, und eine Blüth-
enwolke hieng berauschend über der weiten Welt, und
die Moose sandten oben ihre Düfte dem schwebenden
Frühling zu, wie unten die Orangen zu ihm aufduf-
teten; in dem Meere von Wohlgeruch aber schwebte
die Poesie wie über dem Chaos Eros, und bildete
Kunstgestalten aus der Aroma und dem Farbenglanz.
Und die alten Götter waren gestorben, wie das Laub
gefallen war, und wie Grabeshügel lagen die Schutt-
haufen ihrer Tempel weit umher, und über Tod und
Grab erhaben und über Endlichkeit und Zeitlichkeit,
war siegreich ein anderer Gott hervorgegangen; er

ſchauer, und des Froſtes ſtarre Herbigkeit, und es war
ein ahndend Sehnen in dem Gemüthe aller Dinge
und ein freudig ſinnend Verlangen in allem Irdiſchen,
als das Mittelalter begann. Ein großer Erdenfrühling
war über den Welttheil ausgebreitet; der ſchöne Garten
in Griechenland, das zweite Paradies, war wohl zer-
ſtört, und bald trat ein Cherub mit dem Flammen-
ſchwerd von Mahomed ausgeſendet vor den Eingang
hin; die Palläſte der Römerſiadt waren wohl geſchleift
und der große Thurm umgeworfen, der aller Völker
Sprachen verbinden ſollte: aber der ganze weite Welt-
theil, der wüſt gelegen hatte und verwildert, während
jene Kunſtgärten blühten, war nun auch wegſam und
zugänglich und angepflanzt geworden, und eine Blüth-
enwolke hieng berauſchend über der weiten Welt, und
die Mooſe ſandten oben ihre Düfte dem ſchwebenden
Frühling zu, wie unten die Orangen zu ihm aufduf-
teten; in dem Meere von Wohlgeruch aber ſchwebte
die Poeſie wie über dem Chaos Eros, und bildete
Kunſtgeſtalten aus der Aroma und dem Farbenglanz.
Und die alten Götter waren geſtorben, wie das Laub
gefallen war, und wie Grabeshügel lagen die Schutt-
haufen ihrer Tempel weit umher, und über Tod und
Grab erhaben und über Endlichkeit und Zeitlichkeit,
war ſiegreich ein anderer Gott hervorgegangen; er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0290" n="274[272]"/>
&#x017F;chauer, und des Fro&#x017F;tes &#x017F;tarre Herbigkeit, und es war<lb/>
ein ahndend Sehnen in dem Gemüthe aller Dinge<lb/>
und ein freudig &#x017F;innend Verlangen in allem Irdi&#x017F;chen,<lb/>
als das Mittelalter begann. Ein großer Erdenfrühling<lb/>
war über den Welttheil ausgebreitet; der &#x017F;chöne Garten<lb/>
in Griechenland, das zweite Paradies, war wohl zer-<lb/>
&#x017F;tört, und bald trat ein Cherub mit dem Flammen-<lb/>
&#x017F;chwerd von Mahomed ausge&#x017F;endet vor den Eingang<lb/>
hin; die Pallä&#x017F;te der Römer&#x017F;iadt waren wohl ge&#x017F;chleift<lb/>
und der große Thurm umgeworfen, der aller Völker<lb/>
Sprachen verbinden &#x017F;ollte: aber der ganze weite Welt-<lb/>
theil, der wü&#x017F;t gelegen hatte und verwildert, während<lb/>
jene Kun&#x017F;tgärten blühten, war nun auch weg&#x017F;am und<lb/>
zugänglich und angepflanzt geworden, und eine Blüth-<lb/>
enwolke hieng berau&#x017F;chend über der weiten Welt, und<lb/>
die Moo&#x017F;e &#x017F;andten oben ihre Düfte dem &#x017F;chwebenden<lb/>
Frühling zu, wie unten die Orangen zu ihm aufduf-<lb/>
teten; in dem Meere von Wohlgeruch aber &#x017F;chwebte<lb/>
die Poe&#x017F;ie wie über dem Chaos Eros, und bildete<lb/>
Kun&#x017F;tge&#x017F;talten aus der Aroma und dem Farbenglanz.<lb/>
Und die alten Götter waren ge&#x017F;torben, wie das Laub<lb/>
gefallen war, und wie Grabeshügel lagen die Schutt-<lb/>
haufen ihrer Tempel weit umher, und über Tod und<lb/>
Grab erhaben und über Endlichkeit und Zeitlichkeit,<lb/>
war &#x017F;iegreich ein anderer Gott hervorgegangen; er<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274[272]/0290] ſchauer, und des Froſtes ſtarre Herbigkeit, und es war ein ahndend Sehnen in dem Gemüthe aller Dinge und ein freudig ſinnend Verlangen in allem Irdiſchen, als das Mittelalter begann. Ein großer Erdenfrühling war über den Welttheil ausgebreitet; der ſchöne Garten in Griechenland, das zweite Paradies, war wohl zer- ſtört, und bald trat ein Cherub mit dem Flammen- ſchwerd von Mahomed ausgeſendet vor den Eingang hin; die Palläſte der Römerſiadt waren wohl geſchleift und der große Thurm umgeworfen, der aller Völker Sprachen verbinden ſollte: aber der ganze weite Welt- theil, der wüſt gelegen hatte und verwildert, während jene Kunſtgärten blühten, war nun auch wegſam und zugänglich und angepflanzt geworden, und eine Blüth- enwolke hieng berauſchend über der weiten Welt, und die Mooſe ſandten oben ihre Düfte dem ſchwebenden Frühling zu, wie unten die Orangen zu ihm aufduf- teten; in dem Meere von Wohlgeruch aber ſchwebte die Poeſie wie über dem Chaos Eros, und bildete Kunſtgeſtalten aus der Aroma und dem Farbenglanz. Und die alten Götter waren geſtorben, wie das Laub gefallen war, und wie Grabeshügel lagen die Schutt- haufen ihrer Tempel weit umher, und über Tod und Grab erhaben und über Endlichkeit und Zeitlichkeit, war ſiegreich ein anderer Gott hervorgegangen; er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/290
Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 274[272]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/290>, abgerufen am 29.03.2024.