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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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Leben allein die Wahrheit, in der Poesie nur Schein und schöner Trug gesucht; gerade umgekehrt erscheint uns die gute Poesie untrüglich, der gemeine Verlauf der Dinge aber das große Haus der Lüge und der Täuschung. Hat je ein Auge nur, in das sich ein überfließend Herz ergossen, uns betrogen? Vergehen nicht vor einer wahrhaften Begeisterung und einem warmen Gefühle alle die Schlechtigkeiten früherer Ueberlegung und kalter Klügeley, bis mit zunehmender Erkältung wieder die Nebel sich verdichtet haben? Jst eine wahre Empfindung je an sich selbst irre geworden? Nur weil die Quellen in der Menschenbrust nicht anhaltend fließen, sondern intermittirend hervorbrechen und wieder in sich selbst versiegen, darum kommt Wankelmüthigkeit und Unentschlossenheit ins Leben; mit der ruhigen Besinnung kehrt auch immer die Mensur zurück und die Einsicht, die Umsicht und die Wahl, und selten wählt der Mensch im nüchternen Muthe, wie Gott, das Beste; seltener aus innerer Verzagtheit das Schlechteste, meist ein neutrales Gemisch aus beydem, eben das Gewöhnliche. Es ist daher zu glauben, daß eine Nation nicht schlechter sey, als ihre Poesie; es würde betrübt um die Deutschen stehen, wenn sie nicht besser als ihre Geschichte wären; haben sie ihre eigene Herzenssprache dort geredet, so haben sie hier jeden fremden Patois sich aufdringen lassen müssen, und aus innerer Kleinmüthigkeit nach und nach ihre Muttersprache beynahe ganz vergessen. Die Jahre oder Jahrhunderte eines Volkes, in denen keine Begeisterung gewesen ist, werden in seiner wahrhaften, zugleich poetischen Geschichte nicht gezählt; schon lange aber drucken die Neudeutschen mit großer Geschäftigkeit solche Schmutzblätter zu ihren Annalen, die jedesmal als Widerdruck aus der Presse kommen, daß dem Lesenden die Augen übergehen. Wollen sie nicht, daß ihre Wirklichkeit ihre innere Poesie, und somit den Kern ihres Wesens vernichte, so müssen sie ihre zufällige Aeußerlichkeit durch die bessere Natur Lügen strafen, damit sie vor der Geschichte ihre augenblickliche Abwesenheit rechtfertigen, wie andere Völker es gethan haben.

Leben allein die Wahrheit, in der Poesie nur Schein und schoͤner Trug gesucht; gerade umgekehrt erscheint uns die gute Poesie untruͤglich, der gemeine Verlauf der Dinge aber das große Haus der Luͤge und der Taͤuschung. Hat je ein Auge nur, in das sich ein uͤberfließend Herz ergossen, uns betrogen? Vergehen nicht vor einer wahrhaften Begeisterung und einem warmen Gefuͤhle alle die Schlechtigkeiten fruͤherer Ueberlegung und kalter Kluͤgeley, bis mit zunehmender Erkaͤltung wieder die Nebel sich verdichtet haben? Jst eine wahre Empfindung je an sich selbst irre geworden? Nur weil die Quellen in der Menschenbrust nicht anhaltend fließen, sondern intermittirend hervorbrechen und wieder in sich selbst versiegen, darum kommt Wankelmuͤthigkeit und Unentschlossenheit ins Leben; mit der ruhigen Besinnung kehrt auch immer die Mensur zuruͤck und die Einsicht, die Umsicht und die Wahl, und selten waͤhlt der Mensch im nuͤchternen Muthe, wie Gott, das Beste; seltener aus innerer Verzagtheit das Schlechteste, meist ein neutrales Gemisch aus beydem, eben das Gewoͤhnliche. Es ist daher zu glauben, daß eine Nation nicht schlechter sey, als ihre Poesie; es wuͤrde betruͤbt um die Deutschen stehen, wenn sie nicht besser als ihre Geschichte waͤren; haben sie ihre eigene Herzenssprache dort geredet, so haben sie hier jeden fremden Patois sich aufdringen lassen muͤssen, und aus innerer Kleinmuͤthigkeit nach und nach ihre Muttersprache beynahe ganz vergessen. Die Jahre oder Jahrhunderte eines Volkes, in denen keine Begeisterung gewesen ist, werden in seiner wahrhaften, zugleich poetischen Geschichte nicht gezaͤhlt; schon lange aber drucken die Neudeutschen mit großer Geschaͤftigkeit solche Schmutzblaͤtter zu ihren Annalen, die jedesmal als Widerdruck aus der Presse kommen, daß dem Lesenden die Augen uͤbergehen. Wollen sie nicht, daß ihre Wirklichkeit ihre innere Poesie, und somit den Kern ihres Wesens vernichte, so muͤssen sie ihre zufaͤllige Aeußerlichkeit durch die bessere Natur Luͤgen strafen, damit sie vor der Geschichte ihre augenblickliche Abwesenheit rechtfertigen, wie andere Voͤlker es gethan haben.

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[43/0031] Leben allein die Wahrheit, in der Poesie nur Schein und schoͤner Trug gesucht; gerade umgekehrt erscheint uns die gute Poesie untruͤglich, der gemeine Verlauf der Dinge aber das große Haus der Luͤge und der Taͤuschung. Hat je ein Auge nur, in das sich ein uͤberfließend Herz ergossen, uns betrogen? Vergehen nicht vor einer wahrhaften Begeisterung und einem warmen Gefuͤhle alle die Schlechtigkeiten fruͤherer Ueberlegung und kalter Kluͤgeley, bis mit zunehmender Erkaͤltung wieder die Nebel sich verdichtet haben? Jst eine wahre Empfindung je an sich selbst irre geworden? Nur weil die Quellen in der Menschenbrust nicht anhaltend fließen, sondern intermittirend hervorbrechen und wieder in sich selbst versiegen, darum kommt Wankelmuͤthigkeit und Unentschlossenheit ins Leben; mit der ruhigen Besinnung kehrt auch immer die Mensur zuruͤck und die Einsicht, die Umsicht und die Wahl, und selten waͤhlt der Mensch im nuͤchternen Muthe, wie Gott, das Beste; seltener aus innerer Verzagtheit das Schlechteste, meist ein neutrales Gemisch aus beydem, eben das Gewoͤhnliche. Es ist daher zu glauben, daß eine Nation nicht schlechter sey, als ihre Poesie; es wuͤrde betruͤbt um die Deutschen stehen, wenn sie nicht besser als ihre Geschichte waͤren; haben sie ihre eigene Herzenssprache dort geredet, so haben sie hier jeden fremden Patois sich aufdringen lassen muͤssen, und aus innerer Kleinmuͤthigkeit nach und nach ihre Muttersprache beynahe ganz vergessen. Die Jahre oder Jahrhunderte eines Volkes, in denen keine Begeisterung gewesen ist, werden in seiner wahrhaften, zugleich poetischen Geschichte nicht gezaͤhlt; schon lange aber drucken die Neudeutschen mit großer Geschaͤftigkeit solche Schmutzblaͤtter zu ihren Annalen, die jedesmal als Widerdruck aus der Presse kommen, daß dem Lesenden die Augen uͤbergehen. Wollen sie nicht, daß ihre Wirklichkeit ihre innere Poesie, und somit den Kern ihres Wesens vernichte, so muͤssen sie ihre zufaͤllige Aeußerlichkeit durch die bessere Natur Luͤgen strafen, damit sie vor der Geschichte ihre augenblickliche Abwesenheit rechtfertigen, wie andere Voͤlker es gethan haben.

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/31>, abgerufen am 19.04.2024.