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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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suchen wir das, was wir mit dem Namen Naturpoesie bezeichnet haben, fernab in den ersten Morgenstunden unter den Morgenträumen der Gattung der Nationen und der Jndividuen. Gediegene, tönende Metallnatur ist ihr Character, einfach, großartig, gemessen und wahr und recht die Form, weil die Zeit scharf accentuirt, die gesunde Natur aber nimmer irrt, und allem, was sie gestaltet, das rechte Gepräge gibt und die eigentliche Signatur. Wie das Feuer von Natur die Pyramidenform liebt, und das Wasser die Kugelform, und ohne vorhergegangene geometrische Construction beyde in ihre eigenthümliche Gestalt sich fügen, so nehmen auch die Affecte von selbst die specifische Formirung an, und in dem Kunstwerk ist durch dieselbe Nothwendigkeit, die es hervorgebracht, auch das Band zwischen Form und dem innwohnenden Geist geknüpft. Gesang und Tonfall und das Wort und Klanggewebe, was man sonst wohl, als der Poesie, äußerlich ansieht, ist ihr in Wahrheit hier innerlich eingeboren, oder die Poesie ist vielmehr ununterscheidbar mit ihnen verwachsen, wie Leib und Seele im organischen Leben. Wie sich die Zeiten häufen, vermehren sich auch die stehenden Typen dieses Naturgesangs; was massiv in großen Quadern die erste Zeit gebaut, das durchdringt der nimmer rastende Bildungstrieb, und meiselt es bis zum feinsten Spitzengewebe aus; und nun erst tritt die Möglichkeit einer innern Scheidung ein. Was vorher von innen mit der Begeisterung von selbst geworden, das kann jetzt von außen abgesehen werden; die Form kann gelernt werden aus den vielen schon bestehenden Exemplaren, und der abgezogene Geist wird hernach gelegentlich eingefüllt. Die neueste Zeit kann auch immer das treffendste Zeugniß für die Wirklichkeit dieser formlosen Begeisterung und der geistlosen Form geben. Haben wir nicht gesehen, wie klanglose Naturen gleich Seilern ihre Stricke auf allen Wegen ausgespannt, und im Spannen und Nachlassen ihrem poetischen Webstuhl die schärfste Stimmung gegeben, und webend nun den schönsten Damast zum häuslichen Gebrauch zugleich auch, wie das

suchen wir das, was wir mit dem Namen Naturpoesie bezeichnet haben, fernab in den ersten Morgenstunden unter den Morgentraͤumen der Gattung der Nationen und der Jndividuen. Gediegene, toͤnende Metallnatur ist ihr Character, einfach, großartig, gemessen und wahr und recht die Form, weil die Zeit scharf accentuirt, die gesunde Natur aber nimmer irrt, und allem, was sie gestaltet, das rechte Gepraͤge gibt und die eigentliche Signatur. Wie das Feuer von Natur die Pyramidenform liebt, und das Wasser die Kugelform, und ohne vorhergegangene geometrische Construction beyde in ihre eigenthuͤmliche Gestalt sich fuͤgen, so nehmen auch die Affecte von selbst die specifische Formirung an, und in dem Kunstwerk ist durch dieselbe Nothwendigkeit, die es hervorgebracht, auch das Band zwischen Form und dem innwohnenden Geist geknuͤpft. Gesang und Tonfall und das Wort und Klanggewebe, was man sonst wohl, als der Poesie, aͤußerlich ansieht, ist ihr in Wahrheit hier innerlich eingeboren, oder die Poesie ist vielmehr ununterscheidbar mit ihnen verwachsen, wie Leib und Seele im organischen Leben. Wie sich die Zeiten haͤufen, vermehren sich auch die stehenden Typen dieses Naturgesangs; was massiv in großen Quadern die erste Zeit gebaut, das durchdringt der nimmer rastende Bildungstrieb, und meiselt es bis zum feinsten Spitzengewebe aus; und nun erst tritt die Moͤglichkeit einer innern Scheidung ein. Was vorher von innen mit der Begeisterung von selbst geworden, das kann jetzt von außen abgesehen werden; die Form kann gelernt werden aus den vielen schon bestehenden Exemplaren, und der abgezogene Geist wird hernach gelegentlich eingefuͤllt. Die neueste Zeit kann auch immer das treffendste Zeugniß fuͤr die Wirklichkeit dieser formlosen Begeisterung und der geistlosen Form geben. Haben wir nicht gesehen, wie klanglose Naturen gleich Seilern ihre Stricke auf allen Wegen ausgespannt, und im Spannen und Nachlassen ihrem poetischen Webstuhl die schaͤrfste Stimmung gegeben, und webend nun den schoͤnsten Damast zum haͤuslichen Gebrauch zugleich auch, wie das

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[225/0005] suchen wir das, was wir mit dem Namen Naturpoesie bezeichnet haben, fernab in den ersten Morgenstunden unter den Morgentraͤumen der Gattung der Nationen und der Jndividuen. Gediegene, toͤnende Metallnatur ist ihr Character, einfach, großartig, gemessen und wahr und recht die Form, weil die Zeit scharf accentuirt, die gesunde Natur aber nimmer irrt, und allem, was sie gestaltet, das rechte Gepraͤge gibt und die eigentliche Signatur. Wie das Feuer von Natur die Pyramidenform liebt, und das Wasser die Kugelform, und ohne vorhergegangene geometrische Construction beyde in ihre eigenthuͤmliche Gestalt sich fuͤgen, so nehmen auch die Affecte von selbst die specifische Formirung an, und in dem Kunstwerk ist durch dieselbe Nothwendigkeit, die es hervorgebracht, auch das Band zwischen Form und dem innwohnenden Geist geknuͤpft. Gesang und Tonfall und das Wort und Klanggewebe, was man sonst wohl, als der Poesie, aͤußerlich ansieht, ist ihr in Wahrheit hier innerlich eingeboren, oder die Poesie ist vielmehr ununterscheidbar mit ihnen verwachsen, wie Leib und Seele im organischen Leben. Wie sich die Zeiten haͤufen, vermehren sich auch die stehenden Typen dieses Naturgesangs; was massiv in großen Quadern die erste Zeit gebaut, das durchdringt der nimmer rastende Bildungstrieb, und meiselt es bis zum feinsten Spitzengewebe aus; und nun erst tritt die Moͤglichkeit einer innern Scheidung ein. Was vorher von innen mit der Begeisterung von selbst geworden, das kann jetzt von außen abgesehen werden; die Form kann gelernt werden aus den vielen schon bestehenden Exemplaren, und der abgezogene Geist wird hernach gelegentlich eingefuͤllt. Die neueste Zeit kann auch immer das treffendste Zeugniß fuͤr die Wirklichkeit dieser formlosen Begeisterung und der geistlosen Form geben. Haben wir nicht gesehen, wie klanglose Naturen gleich Seilern ihre Stricke auf allen Wegen ausgespannt, und im Spannen und Nachlassen ihrem poetischen Webstuhl die schaͤrfste Stimmung gegeben, und webend nun den schoͤnsten Damast zum haͤuslichen Gebrauch zugleich auch, wie das

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/5>, abgerufen am 19.04.2024.