Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

haben: denn es hat jedes einzelne Beginnen so viele
Schwierigkeiten, daß es einen ganzen Menschen,
ja mehrere zusammen braucht, um zu einem erwünsch-
ten Ziele zu gelangen. Allein dagegen hat man wieder
zu bedenken, daß die Thätigkeiten, in einem höhern
Sinne, nicht vereinzelt anzusehen sind, sondern daß sie
einander wechselsweise zu Hülfe kommen, und daß
der Mensch, wie mit andern also auch mit sich selbst,
öfters in ein Bündniß treten und daher sich in meh-
rere Tüchtigkeiten zu theilen und in mehreren Tu-
genden zu üben hat.

Wie es mir hierin im Ganzen ergangen, würde
nur durch eine umständliche Erzählung mitgetheilt wer-
den können, und so mag das Gegenwärtige als ein
einzelnes Capitel jenes größern Bekenntnisses angesehen
werden, welches abzulegen mir vielleicht noch Zeit und
Muth übrig bleibt.

Indem sich meine Zeitgenossen gleich bey dem er-
sten Erscheinen meiner dichterischen Versuche freundlich
genug gegen mich erwiesen, und mir, wenn sie gleich
sonst mancherley auszusetzen fanden, wenigstens ein poe-
tisches Talent mit Geneigtheit zuerkannten; so hatte
ich selbst gegen die Dichtkunst ein eignes wundersames
Verhältniß, das blos praktisch war, indem ich einen
Gegenstand der mich ergriff, ein Muster das mich auf-
regte, einen Vorgänger der mich anzog, so lange in
meinem innern Sinn trug und hegte, bis daraus etwas
entstanden war, das als mein angesehen werden mochte,

haben: denn es hat jedes einzelne Beginnen ſo viele
Schwierigkeiten, daß es einen ganzen Menſchen,
ja mehrere zuſammen braucht, um zu einem erwuͤnſch-
ten Ziele zu gelangen. Allein dagegen hat man wieder
zu bedenken, daß die Thaͤtigkeiten, in einem hoͤhern
Sinne, nicht vereinzelt anzuſehen ſind, ſondern daß ſie
einander wechſelsweiſe zu Huͤlfe kommen, und daß
der Menſch, wie mit andern alſo auch mit ſich ſelbſt,
oͤfters in ein Buͤndniß treten und daher ſich in meh-
rere Tuͤchtigkeiten zu theilen und in mehreren Tu-
genden zu uͤben hat.

Wie es mir hierin im Ganzen ergangen, wuͤrde
nur durch eine umſtaͤndliche Erzaͤhlung mitgetheilt wer-
den koͤnnen, und ſo mag das Gegenwaͤrtige als ein
einzelnes Capitel jenes groͤßern Bekenntniſſes angeſehen
werden, welches abzulegen mir vielleicht noch Zeit und
Muth uͤbrig bleibt.

Indem ſich meine Zeitgenoſſen gleich bey dem er-
ſten Erſcheinen meiner dichteriſchen Verſuche freundlich
genug gegen mich erwieſen, und mir, wenn ſie gleich
ſonſt mancherley auszuſetzen fanden, wenigſtens ein poe-
tiſches Talent mit Geneigtheit zuerkannten; ſo hatte
ich ſelbſt gegen die Dichtkunſt ein eignes wunderſames
Verhaͤltniß, das blos praktiſch war, indem ich einen
Gegenſtand der mich ergriff, ein Muſter das mich auf-
regte, einen Vorgaͤnger der mich anzog, ſo lange in
meinem innern Sinn trug und hegte, bis daraus etwas
entſtanden war, das als mein angeſehen werden mochte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0701" n="667"/>
haben: denn es hat jedes einzelne Beginnen &#x017F;o viele<lb/>
Schwierigkeiten, daß es einen ganzen Men&#x017F;chen,<lb/>
ja mehrere zu&#x017F;ammen braucht, um zu einem erwu&#x0364;n&#x017F;ch-<lb/>
ten Ziele zu gelangen. Allein dagegen hat man wieder<lb/>
zu bedenken, daß die Tha&#x0364;tigkeiten, in einem ho&#x0364;hern<lb/>
Sinne, nicht vereinzelt anzu&#x017F;ehen &#x017F;ind, &#x017F;ondern daß &#x017F;ie<lb/>
einander wech&#x017F;elswei&#x017F;e zu Hu&#x0364;lfe kommen, und daß<lb/>
der Men&#x017F;ch, wie mit andern al&#x017F;o auch mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
o&#x0364;fters in ein Bu&#x0364;ndniß treten und daher &#x017F;ich in meh-<lb/>
rere Tu&#x0364;chtigkeiten zu theilen und in mehreren Tu-<lb/>
genden zu u&#x0364;ben hat.</p><lb/>
            <p>Wie es mir hierin im Ganzen ergangen, wu&#x0364;rde<lb/>
nur durch eine um&#x017F;ta&#x0364;ndliche Erza&#x0364;hlung mitgetheilt wer-<lb/>
den ko&#x0364;nnen, und &#x017F;o mag das Gegenwa&#x0364;rtige als ein<lb/>
einzelnes Capitel jenes gro&#x0364;ßern Bekenntni&#x017F;&#x017F;es ange&#x017F;ehen<lb/>
werden, welches abzulegen mir vielleicht noch Zeit und<lb/>
Muth u&#x0364;brig bleibt.</p><lb/>
            <p>Indem &#x017F;ich meine Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en gleich bey dem er-<lb/>
&#x017F;ten Er&#x017F;cheinen meiner dichteri&#x017F;chen Ver&#x017F;uche freundlich<lb/>
genug gegen mich erwie&#x017F;en, und mir, wenn &#x017F;ie gleich<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t mancherley auszu&#x017F;etzen fanden, wenig&#x017F;tens ein poe-<lb/>
ti&#x017F;ches Talent mit Geneigtheit zuerkannten; &#x017F;o hatte<lb/>
ich &#x017F;elb&#x017F;t gegen die Dichtkun&#x017F;t ein eignes wunder&#x017F;ames<lb/>
Verha&#x0364;ltniß, das blos prakti&#x017F;ch war, indem ich einen<lb/>
Gegen&#x017F;tand der mich ergriff, ein Mu&#x017F;ter das mich auf-<lb/>
regte, einen Vorga&#x0364;nger der mich anzog, &#x017F;o lange in<lb/>
meinem innern Sinn trug und hegte, bis daraus etwas<lb/>
ent&#x017F;tanden war, das als mein ange&#x017F;ehen werden mochte,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[667/0701] haben: denn es hat jedes einzelne Beginnen ſo viele Schwierigkeiten, daß es einen ganzen Menſchen, ja mehrere zuſammen braucht, um zu einem erwuͤnſch- ten Ziele zu gelangen. Allein dagegen hat man wieder zu bedenken, daß die Thaͤtigkeiten, in einem hoͤhern Sinne, nicht vereinzelt anzuſehen ſind, ſondern daß ſie einander wechſelsweiſe zu Huͤlfe kommen, und daß der Menſch, wie mit andern alſo auch mit ſich ſelbſt, oͤfters in ein Buͤndniß treten und daher ſich in meh- rere Tuͤchtigkeiten zu theilen und in mehreren Tu- genden zu uͤben hat. Wie es mir hierin im Ganzen ergangen, wuͤrde nur durch eine umſtaͤndliche Erzaͤhlung mitgetheilt wer- den koͤnnen, und ſo mag das Gegenwaͤrtige als ein einzelnes Capitel jenes groͤßern Bekenntniſſes angeſehen werden, welches abzulegen mir vielleicht noch Zeit und Muth uͤbrig bleibt. Indem ſich meine Zeitgenoſſen gleich bey dem er- ſten Erſcheinen meiner dichteriſchen Verſuche freundlich genug gegen mich erwieſen, und mir, wenn ſie gleich ſonſt mancherley auszuſetzen fanden, wenigſtens ein poe- tiſches Talent mit Geneigtheit zuerkannten; ſo hatte ich ſelbſt gegen die Dichtkunſt ein eignes wunderſames Verhaͤltniß, das blos praktiſch war, indem ich einen Gegenſtand der mich ergriff, ein Muſter das mich auf- regte, einen Vorgaͤnger der mich anzog, ſo lange in meinem innern Sinn trug und hegte, bis daraus etwas entſtanden war, das als mein angeſehen werden mochte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/701
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 667. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/701>, abgerufen am 19.04.2024.