als eine offene Flamme. Die Sonne war schon längst aufgegangen, aber Nachbarhäu¬ ser verdeckten den Osten. Endlich erschien sie über den Dächern; sogleich ward ein Brenn¬ glas zur Hand genommen, und die in einer schönen Porzellanschale auf dem Gipfel ste¬ henden Räucherkerzen angezündet. Alles gelang nach Wunsch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine be¬ sondre Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hause eingeräumt hatte, stehen. Jedermann sah darin nur eine wohlaufgeputz¬ te Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wußte besser was er verschwieg. Er sehnte sich nach der Wiederholung jener Feyerlich¬ keit. Unglücklicherweise war eben, als die ge¬ legenste Sonne hervorstieg, die Porzellantasse nicht bey der Hand; er stellte die Räucher¬ kerzchen unmittelbar auf die obere Fläche des Musikpultes; sie wurden angezündet, und die Andacht war so groß, daß der Priester nicht merkte, welchen Schaden sein Opfer anrichte¬
als eine offene Flamme. Die Sonne war ſchon laͤngſt aufgegangen, aber Nachbarhaͤu¬ ſer verdeckten den Oſten. Endlich erſchien ſie uͤber den Daͤchern; ſogleich ward ein Brenn¬ glas zur Hand genommen, und die in einer ſchoͤnen Porzellanſchale auf dem Gipfel ſte¬ henden Raͤucherkerzen angezuͤndet. Alles gelang nach Wunſch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine be¬ ſondre Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hauſe eingeraͤumt hatte, ſtehen. Jedermann ſah darin nur eine wohlaufgeputz¬ te Naturalienſammlung; der Knabe hingegen wußte beſſer was er verſchwieg. Er ſehnte ſich nach der Wiederholung jener Feyerlich¬ keit. Ungluͤcklicherweiſe war eben, als die ge¬ legenſte Sonne hervorſtieg, die Porzellantaſſe nicht bey der Hand; er ſtellte die Raͤucher¬ kerzchen unmittelbar auf die obere Flaͤche des Muſikpultes; ſie wurden angezuͤndet, und die Andacht war ſo groß, daß der Prieſter nicht merkte, welchen Schaden ſein Opfer anrichte¬
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als eine offene Flamme. Die Sonne war
ſchon laͤngſt aufgegangen, aber Nachbarhaͤu¬
ſer verdeckten den Oſten. Endlich erſchien ſie
uͤber den Daͤchern; ſogleich ward ein Brenn¬
glas zur Hand genommen, und die in einer
ſchoͤnen Porzellanſchale auf dem Gipfel ſte¬
henden Raͤucherkerzen angezuͤndet. Alles
gelang nach Wunſch, und die Andacht war
vollkommen. Der Altar blieb als eine be¬
ſondre Zierde des Zimmers, das man ihm
im neuen Hauſe eingeraͤumt hatte, ſtehen.
Jedermann ſah darin nur eine wohlaufgeputz¬
te Naturalienſammlung; der Knabe hingegen
wußte beſſer was er verſchwieg. Er ſehnte
ſich nach der Wiederholung jener Feyerlich¬
keit. Ungluͤcklicherweiſe war eben, als die ge¬
legenſte Sonne hervorſtieg, die Porzellantaſſe
nicht bey der Hand; er ſtellte die Raͤucher¬
kerzchen unmittelbar auf die obere Flaͤche des
Muſikpultes; ſie wurden angezuͤndet, und die
Andacht war ſo groß, daß der Prieſter nicht
merkte, welchen Schaden ſein Opfer anrichte¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/103>, abgerufen am 07.05.2024.
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