Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhal¬
tung gewesen seyn: denn durch Ungeschicklich¬
keit der Hebamme kam ich für todt auf die Welt,
und nur durch vielfache Bemühungen brachte
man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬
ser Umstand, welcher die Meinigen in große
Noth versetzt hatte, gereichte jedoch meinen
Mitbürgern zum Vortheil, indem mein Gro߬
vater, der Schultheiß Johann Wolfgang
Textor
, daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬
burtshelfer angestellt, und der Hebammen-Un¬
terricht eingeführt oder erneuert wurde; wel¬
ches denn manchem der Nachgebornen mag zu
Gute gekommen seyn.

Wenn man sich erinnern will, was uns in der
frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt
man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬
dern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir
wirklich aus eigner anschauender Erfahrung be¬
sitzen. Ohne also hierüber eine genaue Untersu¬
chung anzustellen, welche ohnehin zu nichts füh¬

wußten, moͤgen wohl Urſache an meiner Erhal¬
tung geweſen ſeyn: denn durch Ungeſchicklich¬
keit der Hebamme kam ich fuͤr todt auf die Welt,
und nur durch vielfache Bemuͤhungen brachte
man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬
ſer Umſtand, welcher die Meinigen in große
Noth verſetzt hatte, gereichte jedoch meinen
Mitbuͤrgern zum Vortheil, indem mein Gro߬
vater, der Schultheiß Johann Wolfgang
Textor
, daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬
burtshelfer angeſtellt, und der Hebammen-Un¬
terricht eingefuͤhrt oder erneuert wurde; wel¬
ches denn manchem der Nachgebornen mag zu
Gute gekommen ſeyn.

Wenn man ſich erinnern will, was uns in der
fruͤhſten Zeit der Jugend begegnet iſt, ſo kommt
man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬
dern gehoͤrt, mit dem zu verwechſeln, was wir
wirklich aus eigner anſchauender Erfahrung be¬
ſitzen. Ohne alſo hieruͤber eine genaue Unterſu¬
chung anzuſtellen, welche ohnehin zu nichts fuͤh¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0020" n="4"/>
wußten, mo&#x0364;gen wohl Ur&#x017F;ache an meiner Erhal¬<lb/>
tung gewe&#x017F;en &#x017F;eyn: denn durch Unge&#x017F;chicklich¬<lb/>
keit der Hebamme kam ich fu&#x0364;r todt auf die Welt,<lb/>
und nur durch vielfache Bemu&#x0364;hungen brachte<lb/>
man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬<lb/>
&#x017F;er Um&#x017F;tand, welcher die Meinigen in große<lb/>
Noth ver&#x017F;etzt hatte, gereichte jedoch meinen<lb/>
Mitbu&#x0364;rgern zum Vortheil, indem mein Gro߬<lb/>
vater, der Schultheiß <hi rendition="#g">Johann Wolfgang<lb/>
Textor</hi>, daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬<lb/>
burtshelfer ange&#x017F;tellt, und der Hebammen-Un¬<lb/>
terricht eingefu&#x0364;hrt oder erneuert wurde; wel¬<lb/>
ches denn manchem der Nachgebornen mag zu<lb/>
Gute gekommen &#x017F;eyn.</p><lb/>
      <p>Wenn man &#x017F;ich erinnern will, was uns in der<lb/>
fru&#x0364;h&#x017F;ten Zeit der Jugend begegnet i&#x017F;t, &#x017F;o kommt<lb/>
man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬<lb/>
dern geho&#x0364;rt, mit dem zu verwech&#x017F;eln, was wir<lb/>
wirklich aus eigner an&#x017F;chauender Erfahrung be¬<lb/>
&#x017F;itzen. Ohne al&#x017F;o hieru&#x0364;ber eine genaue Unter&#x017F;<lb/>
chung anzu&#x017F;tellen, welche ohnehin zu nichts fu&#x0364;<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0020] wußten, moͤgen wohl Urſache an meiner Erhal¬ tung geweſen ſeyn: denn durch Ungeſchicklich¬ keit der Hebamme kam ich fuͤr todt auf die Welt, und nur durch vielfache Bemuͤhungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬ ſer Umſtand, welcher die Meinigen in große Noth verſetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbuͤrgern zum Vortheil, indem mein Gro߬ vater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬ burtshelfer angeſtellt, und der Hebammen-Un¬ terricht eingefuͤhrt oder erneuert wurde; wel¬ ches denn manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen ſeyn. Wenn man ſich erinnern will, was uns in der fruͤhſten Zeit der Jugend begegnet iſt, ſo kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬ dern gehoͤrt, mit dem zu verwechſeln, was wir wirklich aus eigner anſchauender Erfahrung be¬ ſitzen. Ohne alſo hieruͤber eine genaue Unterſu¬ chung anzuſtellen, welche ohnehin zu nichts fuͤh¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/20
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/20>, abgerufen am 29.03.2024.