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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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ren kann, bin ich mir bewußt, daß wir in ei¬
nem alten Hause wohnten, welches eigentlich aus
zwey durchgebrochnen Häusern bestand. Eine
thurmartige Treppe führte zu unzusammenhan¬
genden Zimmern, und die Ungleichheit der Stock¬
werke war durch Stufen ausgeglichen. Für
uns Kinder, eine jüngere Schwester und mich,
war der untere weitläuftige Hausflur der liebste
Raum, welcher neben der Thüre ein großes höl¬
zernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmit¬
telbar mit der Straße und der freyen Luft in
Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer,
mit dem viele Häuser versehen waren, nannte
man ein Geräms. Die Frauen saßen darin,
um zu nähen und zu stricken; die Köchinn las ih¬
ren Salat; die Nachbarinnen besprachen sich
von daher miteinander, und die Straßen gewan¬
nen dadurch in der guten Jahrezeit ein südliches
Ansehen. Man fühlte sich frey, indem man
mit dem Oeffentlichen vertraut war. So kamen
auch durch diese Gerämse die Kinder mit den
Nachbarn in Verbindung, und mich gewan¬

ren kann, bin ich mir bewußt, daß wir in ei¬
nem alten Hauſe wohnten, welches eigentlich aus
zwey durchgebrochnen Haͤuſern beſtand. Eine
thurmartige Treppe fuͤhrte zu unzuſammenhan¬
genden Zimmern, und die Ungleichheit der Stock¬
werke war durch Stufen ausgeglichen. Fuͤr
uns Kinder, eine juͤngere Schweſter und mich,
war der untere weitlaͤuftige Hausflur der liebſte
Raum, welcher neben der Thuͤre ein großes hoͤl¬
zernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmit¬
telbar mit der Straße und der freyen Luft in
Verbindung kam. Einen ſolchen Vogelbauer,
mit dem viele Haͤuſer verſehen waren, nannte
man ein Geraͤms. Die Frauen ſaßen darin,
um zu naͤhen und zu ſtricken; die Koͤchinn las ih¬
ren Salat; die Nachbarinnen beſprachen ſich
von daher miteinander, und die Straßen gewan¬
nen dadurch in der guten Jahrezeit ein ſuͤdliches
Anſehen. Man fuͤhlte ſich frey, indem man
mit dem Oeffentlichen vertraut war. So kamen
auch durch dieſe Geraͤmſe die Kinder mit den
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[5/0021] ren kann, bin ich mir bewußt, daß wir in ei¬ nem alten Hauſe wohnten, welches eigentlich aus zwey durchgebrochnen Haͤuſern beſtand. Eine thurmartige Treppe fuͤhrte zu unzuſammenhan¬ genden Zimmern, und die Ungleichheit der Stock¬ werke war durch Stufen ausgeglichen. Fuͤr uns Kinder, eine juͤngere Schweſter und mich, war der untere weitlaͤuftige Hausflur der liebſte Raum, welcher neben der Thuͤre ein großes hoͤl¬ zernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmit¬ telbar mit der Straße und der freyen Luft in Verbindung kam. Einen ſolchen Vogelbauer, mit dem viele Haͤuſer verſehen waren, nannte man ein Geraͤms. Die Frauen ſaßen darin, um zu naͤhen und zu ſtricken; die Koͤchinn las ih¬ ren Salat; die Nachbarinnen beſprachen ſich von daher miteinander, und die Straßen gewan¬ nen dadurch in der guten Jahrezeit ein ſuͤdliches Anſehen. Man fuͤhlte ſich frey, indem man mit dem Oeffentlichen vertraut war. So kamen auch durch dieſe Geraͤmſe die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewan¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/21>, abgerufen am 29.04.2024.