Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwölftes Capitel.

Den andern Morgen erwachte Mariane nur
zu neuer Betrübniß; sie fand sich sehr allein,
mochte den Tag nicht sehen, blieb im Bette
und weinte. Die Alte setzte sich zu ihr, such¬
te ihr einzureden, sie zu trösten; aber es ge¬
lang ihr nicht, das verwundete Herz so schnell
zu heilen. Nun war der Augenblick nahe,
dem das arme Mädchen wie dem letzten
ihres Lebens entgegen gesehen hatte. Konnte
man sich auch in einer ängstlichern Lage füh¬
len? Ihr Geliebter entfernte sich, ein unbe¬
quemer Liebhaber drohte zu kommen, und
das größte Unheil stand bevor, wenn beide,
wie es leicht möglich war, einmal zusammen¬
treffen sollten.

Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte:
verweine mir deine schönen Augen nicht! Ist

G 2
Zwölftes Capitel.

Den andern Morgen erwachte Mariane nur
zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein,
mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette
und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬
te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬
lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell
zu heilen. Nun war der Augenblick nahe,
dem das arme Mädchen wie dem letzten
ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte
man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬
len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬
quemer Liebhaber drohte zu kommen, und
das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide,
wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬
treffen ſollten.

Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte:
verweine mir deine ſchönen Augen nicht! Iſt

G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0107" n="99"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#g">Zwölftes Capitel.</hi><lb/>
            </head>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>en andern Morgen erwachte Mariane nur<lb/>
zu neuer Betrübniß; &#x017F;ie fand &#x017F;ich &#x017F;ehr allein,<lb/>
mochte den Tag nicht &#x017F;ehen, blieb im Bette<lb/>
und weinte. Die Alte &#x017F;etzte &#x017F;ich zu ihr, &#x017F;uch¬<lb/>
te ihr einzureden, &#x017F;ie zu trö&#x017F;ten; aber es ge¬<lb/>
lang ihr nicht, das verwundete Herz &#x017F;o &#x017F;chnell<lb/>
zu heilen. Nun war der Augenblick nahe,<lb/>
dem das arme Mädchen wie dem letzten<lb/>
ihres Lebens entgegen ge&#x017F;ehen hatte. Konnte<lb/>
man &#x017F;ich auch in einer äng&#x017F;tlichern Lage füh¬<lb/>
len? Ihr Geliebter entfernte &#x017F;ich, ein unbe¬<lb/>
quemer Liebhaber drohte zu kommen, und<lb/>
das größte Unheil &#x017F;tand bevor, wenn beide,<lb/>
wie es leicht möglich war, einmal zu&#x017F;ammen¬<lb/>
treffen &#x017F;ollten.</p><lb/>
            <p>Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte:<lb/>
verweine mir deine &#x017F;chönen Augen nicht! I&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 2<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0107] Zwölftes Capitel. Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein, mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬ te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬ lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell zu heilen. Nun war der Augenblick nahe, dem das arme Mädchen wie dem letzten ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬ len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬ quemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬ treffen ſollten. Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte: verweine mir deine ſchönen Augen nicht! Iſt G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/107
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/107>, abgerufen am 25.04.2024.