Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend sas, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Die wehmüthige herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers. Es schien ihm, als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬ hindert würde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis sich wieder die Stim¬ me leise in gebrochenen Lauten dazwischen mischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, sei¬ ne Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten schloß sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgefühl,
Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬ ſtehen :
Wer nie ſein Brod mit Thränen as,
Wer nie die kummervollen Nächte Auf ſeinem Bette weinend ſas, Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen ſchuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden.
Die wehmüthige herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm, als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬ hindert würde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬ me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬ ne Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0354"n="346"/>
Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬<lb/>ſtehen :</p><lb/><lgtype="poem"><lgn="1"><lrendition="#et">Wer nie ſein Brod mit Thränen as,</l><lb/><l>Wer nie die kummervollen Nächte</l><lb/><l>Auf ſeinem Bette weinend ſas,</l><lb/><l>Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte.</l><lb/></lg><lgn="2"><lrendition="#et">Ihr führt ins Leben uns hinein,</l><lb/><l>Ihr laßt den Armen ſchuldig werden,</l><lb/><l>Dann überlaßt ihr ihn der Pein;</l><lb/><l>Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden.</l><lb/></lg></lg><p>Die wehmüthige herzliche Klage drang<lb/>
tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm,<lb/>
als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬<lb/>
hindert würde fortzufahren; dann klangen<lb/>
die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬<lb/>
me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen<lb/>
miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬<lb/>
ne Seele war tief gerührt, die Trauer des<lb/>
Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz<lb/>
auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[346/0354]
Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬
ſtehen :
Wer nie ſein Brod mit Thränen as,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf ſeinem Bette weinend ſas,
Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen ſchuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden.
Die wehmüthige herzliche Klage drang
tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm,
als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬
hindert würde fortzufahren; dann klangen
die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬
me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen
miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬
ne Seele war tief gerührt, die Trauer des
Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz
auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/354>, abgerufen am 30.11.2023.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2023. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.