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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Aufmerksamkeit, ungefähr folgendes ver¬
stehen :

Wer nie sein Brod mit Thränen as,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend sas,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Die wehmüthige herzliche Klage drang
tief in die Seele des Hörers. Es schien ihm,
als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬
hindert würde fortzufahren; dann klangen
die Saiten allein, bis sich wieder die Stim¬
me leise in gebrochenen Lauten dazwischen
mischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, sei¬
ne Seele war tief gerührt, die Trauer des
Unbekannten schloß sein beklommenes Herz
auf; er widerstand nicht dem Mitgefühl,

Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬
ſtehen :

Wer nie ſein Brod mit Thränen as,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf ſeinem Bette weinend ſas,
Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen ſchuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden.

Die wehmüthige herzliche Klage drang
tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm,
als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬
hindert würde fortzufahren; dann klangen
die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬
me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen
miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬
ne Seele war tief gerührt, die Trauer des
Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz
auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,

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[346/0354] Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬ ſtehen : Wer nie ſein Brod mit Thränen as, Wer nie die kummervollen Nächte Auf ſeinem Bette weinend ſas, Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen ſchuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden. Die wehmüthige herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm, als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬ hindert würde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬ me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬ ne Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/354>, abgerufen am 29.03.2024.