Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwölftes Capitel.

Inzwischen hatte die Baronesse mehrere
Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten
Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das
Betragen des Grafen seit jenem Abentheuer
war ihr ein völliges Räthsel. Er war ganz
aus seiner Manier herausgegangen, von sei¬
nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen.
Seine Forderungen an die Gesellschaft und
an die Bedienten hatten sehr nachgelassen.
Von Pedanterie und gebieterischem Wesen
merkte man wenig, vielmehr war er still und
in sich gekehrt, jedoch schien er heiter, und
wirklich ein anderer Mensch zu seyn. Bey
Vorlesungen, zu denen er zuweilen Anlaß
gab, wählte er ernsthafte, oft religiöse Bü¬
cher, und die Baronesse lebte in beständiger

Furcht,
Zwölftes Capitel.

Inzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere
Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten
Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das
Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer
war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz
aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬
nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen.
Seine Forderungen an die Geſellſchaft und
an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen.
Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen
merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und
in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und
wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey
Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß
gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬
cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändiger

Furcht,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0152" n="144"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#g">Zwölftes Capitel.</hi><lb/>
            </head>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p><hi rendition="#in">I</hi>nzwi&#x017F;chen hatte die Barone&#x017F;&#x017F;e mehrere<lb/>
Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten<lb/>
Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das<lb/>
Betragen des Grafen &#x017F;eit jenem Abentheuer<lb/>
war ihr ein völliges Räth&#x017F;el. Er war ganz<lb/>
aus &#x017F;einer Manier herausgegangen, von &#x017F;ei¬<lb/>
nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen.<lb/>
Seine Forderungen an die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und<lb/>
an die Bedienten hatten &#x017F;ehr nachgela&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Von Pedanterie und gebieteri&#x017F;chem We&#x017F;en<lb/>
merkte man wenig, vielmehr war er &#x017F;till und<lb/>
in &#x017F;ich gekehrt, jedoch &#x017F;chien er heiter, und<lb/>
wirklich ein anderer Men&#x017F;ch zu &#x017F;eyn. Bey<lb/>
Vorle&#x017F;ungen, zu denen er zuweilen Anlaß<lb/>
gab, wählte er ern&#x017F;thafte, oft religiö&#x017F;e Bü¬<lb/>
cher, und die Barone&#x017F;&#x017F;e lebte in be&#x017F;tändiger<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Furcht,<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0152] Zwölftes Capitel. Inzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬ nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen. Seine Forderungen an die Geſellſchaft und an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen. Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬ cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändiger Furcht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/152
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/152>, abgerufen am 25.04.2024.