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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Dieser lag, in seinen warmen Üeberrock
gehüllt, ruhig auf der Bahre. Eine elektri¬
sche Wärme schien aus der feinen Wolle in
seinen Körper überzugehen; genug er fühlte
sich in die behaglichste Empfindung versetzt.
Die schöne Besitzerin des Kleides hatte mäch¬
tig auf ihn gewirkt. Er sah noch den Rock
von ihren Schultern fallen, die edelste Ge¬
stalt, von Strahlen umgeben, vor sich stehen,
und seine Seele eilte der Verschwundnen
durch Felsen und Wälder auf dem Fuße nach.

Nur mit sinkender Nacht kam der Zug
im Dorfe vor dem Wirthshause an, in wel¬
chem sich die übrige Gesellschaft befand, und
verzweiflungsvoll den unersetzlichen Verlust
beklagte. Die einzige kleine Stube des Hau¬
ses war von Menschen vollgepfropft; einige
lagen auf der Streue, andere hatten die
Bänke eingenommen; einige sich hinter den
Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete,

Dieſer lag, in ſeinen warmen Üeberrock
gehüllt, ruhig auf der Bahre. Eine elektri¬
ſche Wärme ſchien aus der feinen Wolle in
ſeinen Körper überzugehen; genug er fühlte
ſich in die behaglichſte Empfindung verſetzt.
Die ſchöne Beſitzerin des Kleides hatte mäch¬
tig auf ihn gewirkt. Er ſah noch den Rock
von ihren Schultern fallen, die edelſte Ge¬
ſtalt, von Strahlen umgeben, vor ſich ſtehen,
und ſeine Seele eilte der Verſchwundnen
durch Felſen und Wälder auf dem Fuße nach.

Nur mit ſinkender Nacht kam der Zug
im Dorfe vor dem Wirthshauſe an, in wel¬
chem ſich die übrige Geſellſchaft befand, und
verzweiflungsvoll den unerſetzlichen Verluſt
beklagte. Die einzige kleine Stube des Hau¬
ſes war von Menſchen vollgepfropft; einige
lagen auf der Streue, andere hatten die
Bänke eingenommen; einige ſich hinter den
Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete,

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[234/0242] Dieſer lag, in ſeinen warmen Üeberrock gehüllt, ruhig auf der Bahre. Eine elektri¬ ſche Wärme ſchien aus der feinen Wolle in ſeinen Körper überzugehen; genug er fühlte ſich in die behaglichſte Empfindung verſetzt. Die ſchöne Beſitzerin des Kleides hatte mäch¬ tig auf ihn gewirkt. Er ſah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelſte Ge¬ ſtalt, von Strahlen umgeben, vor ſich ſtehen, und ſeine Seele eilte der Verſchwundnen durch Felſen und Wälder auf dem Fuße nach. Nur mit ſinkender Nacht kam der Zug im Dorfe vor dem Wirthshauſe an, in wel¬ chem ſich die übrige Geſellſchaft befand, und verzweiflungsvoll den unerſetzlichen Verluſt beklagte. Die einzige kleine Stube des Hau¬ ſes war von Menſchen vollgepfropft; einige lagen auf der Streue, andere hatten die Bänke eingenommen; einige ſich hinter den Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/242>, abgerufen am 29.03.2024.