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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Anfange des Stücks, womit das Gemüth
des guten Kindes beschäftigt ist. Stille lebte
sie vor sich hin, aber kaum verbarg sie ihre
Sehnsucht, ihre Wünsche. Heimlich klangen
die Töne der Lüsternheit in ihrer Seele, und
wie oft mag sie versucht haben, gleich einer
unvorsichtigen Wärterin ihre Sinnlichkeit zur
Ruhe zu singen mit Liedchen, die sie nur
mehr wach halten mußten. Zuletzt, da ihr
jede Gewalt über sich selbst entrissen ist, da
ihr Herz auf der Zunge schwebt, wird diese
Zunge ihre Verrätherin, und in der Unschuld
des Wahnsinns ergötzt sie sich vor König
und Königin an dem Nachklange ihrer ge¬
liebten, losen Lieder: vom Mädchen, das ge¬
wonnen ward; vom Mädchen, das zum Kna¬
ben schleicht, und so weiter.

Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf
einmal eine wunderbare Scene vor seinen
Augen entstand, die er sich auf keine Weise
erklären konnte.

Anfange des Stücks, womit das Gemüth
des guten Kindes beſchäftigt iſt. Stille lebte
ſie vor ſich hin, aber kaum verbarg ſie ihre
Sehnſucht, ihre Wünſche. Heimlich klangen
die Töne der Lüſternheit in ihrer Seele, und
wie oft mag ſie verſucht haben, gleich einer
unvorſichtigen Wärterin ihre Sinnlichkeit zur
Ruhe zu ſingen mit Liedchen, die ſie nur
mehr wach halten mußten. Zuletzt, da ihr
jede Gewalt über ſich ſelbſt entriſſen iſt, da
ihr Herz auf der Zunge ſchwebt, wird dieſe
Zunge ihre Verrätherin, und in der Unſchuld
des Wahnſinns ergötzt ſie ſich vor König
und Königin an dem Nachklange ihrer ge¬
liebten, loſen Lieder: vom Mädchen, das ge¬
wonnen ward; vom Mädchen, das zum Kna¬
ben ſchleicht, und ſo weiter.

Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf
einmal eine wunderbare Scene vor ſeinen
Augen entſtand, die er ſich auf keine Weiſe
erklären konnte.

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[306/0315] Anfange des Stücks, womit das Gemüth des guten Kindes beſchäftigt iſt. Stille lebte ſie vor ſich hin, aber kaum verbarg ſie ihre Sehnſucht, ihre Wünſche. Heimlich klangen die Töne der Lüſternheit in ihrer Seele, und wie oft mag ſie verſucht haben, gleich einer unvorſichtigen Wärterin ihre Sinnlichkeit zur Ruhe zu ſingen mit Liedchen, die ſie nur mehr wach halten mußten. Zuletzt, da ihr jede Gewalt über ſich ſelbſt entriſſen iſt, da ihr Herz auf der Zunge ſchwebt, wird dieſe Zunge ihre Verrätherin, und in der Unſchuld des Wahnſinns ergötzt ſie ſich vor König und Königin an dem Nachklange ihrer ge¬ liebten, loſen Lieder: vom Mädchen, das ge¬ wonnen ward; vom Mädchen, das zum Kna¬ ben ſchleicht, und ſo weiter. Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Scene vor ſeinen Augen entſtand, die er ſich auf keine Weiſe erklären konnte.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/315>, abgerufen am 25.04.2024.