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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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fühlte sich nicht wenig beunruhigt. Der
Mensch kann in keine gefährlichere Lage
versetzt werden, als wenn durch äußere Um¬
stände eine große Veränderung seines Zu¬
standes bewirkt wird, ohne daß seine Art zu
empfinden und zu denken darauf vorbereitet
ist. Es giebt alsdann eine Epoche ohne Epo¬
che, und es entsteht nur ein desto größerer
Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt,
daß er zu dem neuen Zustande noch nicht
ausgebildet sey.

Wilhelm sah sich in einem Augenblicke
frey, in welchem er mit sich selbst noch nicht
einig werden konnte. Seine Gesinnungen
waren edel, seine Absichten lauter und seine
Vorsätze schienen nicht verwerflich. Das al¬
les durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst
bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug
gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfah¬
rung fehle, und er legte daher auf die Er¬

fühlte ſich nicht wenig beunruhigt. Der
Menſch kann in keine gefährlichere Lage
verſetzt werden, als wenn durch äußere Um¬
ſtände eine große Veränderung ſeines Zu¬
ſtandes bewirkt wird, ohne daß ſeine Art zu
empfinden und zu denken darauf vorbereitet
iſt. Es giebt alsdann eine Epoche ohne Epo¬
che, und es entſteht nur ein deſto größerer
Widerſpruch, je weniger der Menſch bemerkt,
daß er zu dem neuen Zuſtande noch nicht
ausgebildet ſey.

Wilhelm ſah ſich in einem Augenblicke
frey, in welchem er mit ſich ſelbſt noch nicht
einig werden konnte. Seine Geſinnungen
waren edel, ſeine Abſichten lauter und ſeine
Vorſätze ſchienen nicht verwerflich. Das al¬
les durfte er ſich mit einigem Zutrauen ſelbſt
bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug
gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfah¬
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[14/0020] fühlte ſich nicht wenig beunruhigt. Der Menſch kann in keine gefährlichere Lage verſetzt werden, als wenn durch äußere Um¬ ſtände eine große Veränderung ſeines Zu¬ ſtandes bewirkt wird, ohne daß ſeine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet iſt. Es giebt alsdann eine Epoche ohne Epo¬ che, und es entſteht nur ein deſto größerer Widerſpruch, je weniger der Menſch bemerkt, daß er zu dem neuen Zuſtande noch nicht ausgebildet ſey. Wilhelm ſah ſich in einem Augenblicke frey, in welchem er mit ſich ſelbſt noch nicht einig werden konnte. Seine Geſinnungen waren edel, ſeine Abſichten lauter und ſeine Vorſätze ſchienen nicht verwerflich. Das al¬ les durfte er ſich mit einigem Zutrauen ſelbſt bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfah¬ rung fehle, und er legte daher auf die Er¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/20>, abgerufen am 24.04.2024.