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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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ersten Zeit übertragen werden, und unser
Freund war mit allem zufrieden was ihm
seinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.

Er hatte sich eine sonderbar wichtige Idee
von seinem Auftrage gemacht. Der Tod sei¬
ner Freundin hatte ihn tief gerührt und da
er sie so frühzeitig von dem Schauplatze ab¬
treten sah, mußte er nothwendig gegen den,
der ihr Leben verkürzt, und dieses kurze Le¬
ben ihr so qualvoll gemacht, feindselig ge¬
sinnt seyn.

Ohngeachtet der letzten gelinden Worte
der Sterbenden, nahm er sich doch vor bey
Überreichung des Briefs ein strenges Gericht
über den ungetreuen Freund ergehen zu las¬
sen, und da er sich nicht einer zufälligen
Stimmung vertrauen wollte, dachte er an ei¬
ne Rede, die in der Ausarbeitung pathetischer
als billig ward. Nachdem er sich völlig von
der guten Composition seines Aufsatzes über¬

erſten Zeit übertragen werden, und unſer
Freund war mit allem zufrieden was ihm
ſeinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.

Er hatte ſich eine ſonderbar wichtige Idee
von ſeinem Auftrage gemacht. Der Tod ſei¬
ner Freundin hatte ihn tief gerührt und da
er ſie ſo frühzeitig von dem Schauplatze ab¬
treten ſah, mußte er nothwendig gegen den,
der ihr Leben verkürzt, und dieſes kurze Le¬
ben ihr ſo qualvoll gemacht, feindſelig ge¬
ſinnt ſeyn.

Ohngeachtet der letzten gelinden Worte
der Sterbenden, nahm er ſich doch vor bey
Überreichung des Briefs ein ſtrenges Gericht
über den ungetreuen Freund ergehen zu laſ¬
ſen, und da er ſich nicht einer zufälligen
Stimmung vertrauen wollte, dachte er an ei¬
ne Rede, die in der Ausarbeitung pathetiſcher
als billig ward. Nachdem er ſich völlig von
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[201/0207] erſten Zeit übertragen werden, und unſer Freund war mit allem zufrieden was ihm ſeinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte. Er hatte ſich eine ſonderbar wichtige Idee von ſeinem Auftrage gemacht. Der Tod ſei¬ ner Freundin hatte ihn tief gerührt und da er ſie ſo frühzeitig von dem Schauplatze ab¬ treten ſah, mußte er nothwendig gegen den, der ihr Leben verkürzt, und dieſes kurze Le¬ ben ihr ſo qualvoll gemacht, feindſelig ge¬ ſinnt ſeyn. Ohngeachtet der letzten gelinden Worte der Sterbenden, nahm er ſich doch vor bey Überreichung des Briefs ein ſtrenges Gericht über den ungetreuen Freund ergehen zu laſ¬ ſen, und da er ſich nicht einer zufälligen Stimmung vertrauen wollte, dachte er an ei¬ ne Rede, die in der Ausarbeitung pathetiſcher als billig ward. Nachdem er ſich völlig von der guten Compoſition ſeines Aufſatzes über¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/207>, abgerufen am 19.04.2024.