Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

zu warnen, und ich nahm es ihm immer
heimlich übel. Ich war keinesweges von der
Wahrheit seiner Behauptung überzeugt, und
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬
len Umständen für so schwach zu halten;
aber er redete zugleich so zudringlich, daß
mir einst bange wurde, er möchte Recht ha¬
ben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte:
weil die Gefahr so groß und das menschliche
Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten,
daß er mich bewahre.

Die naive Antwort schien ihn zu freuen;
er lobte meinen Vorsatz; aber es war bey
mir nichts weniger als ernstlich gemeynt;
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn
die Empfindungen für den Unsichtbaren wa¬
ren bey mir fast ganz verloschen. Der große
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute
mich und riß mich wie ein starker Strom mit

zu warnen, und ich nahm es ihm immer
heimlich übel. Ich war keinesweges von der
Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬
len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten;
aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß
mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬
ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte:
weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche
Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten,
daß er mich bewahre.

Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen;
er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey
mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt;
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn
die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬
ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute
mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0229" n="223"/>
zu warnen, und ich nahm es ihm immer<lb/>
heimlich übel. Ich war keinesweges von der<lb/>
Wahrheit &#x017F;einer Behauptung überzeugt, und<lb/>
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬<lb/>
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬<lb/>
len Um&#x017F;tänden für &#x017F;o &#x017F;chwach zu halten;<lb/>
aber er redete zugleich &#x017F;o zudringlich, daß<lb/>
mir ein&#x017F;t bange wurde, er möchte Recht ha¬<lb/>
ben, da ich denn &#x017F;ehr lebhaft zu ihm &#x017F;agte:<lb/>
weil die Gefahr &#x017F;o groß und das men&#x017F;chliche<lb/>
Herz &#x017F;o &#x017F;chwach i&#x017F;t, &#x017F;o will ich Gott bitten,<lb/>
daß er mich bewahre.</p><lb/>
            <p>Die naive Antwort &#x017F;chien ihn zu freuen;<lb/>
er lobte meinen Vor&#x017F;atz; aber es war bey<lb/>
mir nichts weniger als ern&#x017F;tlich gemeynt;<lb/>
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn<lb/>
die Empfindungen für den Un&#x017F;ichtbaren wa¬<lb/>
ren bey mir fa&#x017F;t ganz verlo&#x017F;chen. Der große<lb/>
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zer&#x017F;treute<lb/>
mich und riß mich wie ein &#x017F;tarker Strom mit<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0229] zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keinesweges von der Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬ leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬ len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten; aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬ ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte: weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten, daß er mich bewahre. Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen; er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt; diesmal war es nur ein leeres Wort; denn die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬ ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/229
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/229>, abgerufen am 29.03.2024.