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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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uns, ich darf wohl sagen, wirklich einen Vor¬
schmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte
bisher nur den frommen Gesang gekannt, in
welchem gute Seelen oft mit heiserer Kehle,
wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬
ben, weil sie sich selbst eine angenehme Em¬
pfindung machen; dann die eitle Musik der
Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬
wunderung eines Talents, selten aber, auch
nur zu einem vorübergehenden Vergnügen
hingerissen wird. Nun vernahm ich eine
Musik aus dem tiefsten Sinne der trefflich
sten menschlichen Naturen entsprungen, die,
durch bestimmte und geübte Organe in har¬
monischer Einheit wieder zum tiefsten besten
Sinne des Menschen sprach und ihn wirk¬
lich in diesem Augenblicke seine Gottähnlich¬
keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren
lateinische, geistliche Gesänge, die sich, wie
Juwelen, in dem goldnen Ringe einer gesit¬

uns, ich darf wohl ſagen, wirklich einen Vor¬
ſchmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte
bisher nur den frommen Geſang gekannt, in
welchem gute Seelen oft mit heiſerer Kehle,
wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬
ben, weil ſie ſich ſelbſt eine angenehme Em¬
pfindung machen; dann die eitle Muſik der
Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬
wunderung eines Talents, ſelten aber, auch
nur zu einem vorübergehenden Vergnügen
hingeriſſen wird. Nun vernahm ich eine
Muſik aus dem tiefſten Sinne der trefflich
ſten menſchlichen Naturen entſprungen, die,
durch beſtimmte und geübte Organe in har¬
moniſcher Einheit wieder zum tiefſten beſten
Sinne des Menſchen ſprach und ihn wirk¬
lich in dieſem Augenblicke ſeine Gottähnlich¬
keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren
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[345/0351] uns, ich darf wohl ſagen, wirklich einen Vor¬ ſchmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte bisher nur den frommen Geſang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit heiſerer Kehle, wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬ ben, weil ſie ſich ſelbſt eine angenehme Em¬ pfindung machen; dann die eitle Muſik der Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬ wunderung eines Talents, ſelten aber, auch nur zu einem vorübergehenden Vergnügen hingeriſſen wird. Nun vernahm ich eine Muſik aus dem tiefſten Sinne der trefflich ſten menſchlichen Naturen entſprungen, die, durch beſtimmte und geübte Organe in har¬ moniſcher Einheit wieder zum tiefſten beſten Sinne des Menſchen ſprach und ihn wirk¬ lich in dieſem Augenblicke ſeine Gottähnlich¬ keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren lateiniſche, geiſtliche Geſänge, die ſich, wie Juwelen, in dem goldnen Ringe einer geſit¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/351>, abgerufen am 25.04.2024.