Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Meine Schwester gebahr einen Sohn,
die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte
ihn nicht, zu ihr zu reisen. Beym Anblick
des Kindes war er unglaublich heiter und
froh, und bey der Taufe erschien er mir ge¬
gen seine Art wie begeistert, ja ich möchte
sagen, als ein Genius mit zwey Gesichtern.
Mit dem einen blickte er freudig vorwärts
in jene Regionen, in die er bald einzugehen
hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬
nungsvolle irdische Leben, das in dem Kna¬
ben entsprungen war, der von ihm abstamm¬
te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege
mich von dem Kinde zu unterhalten, von
seiner Gestalt, seiner Gesundheit, und dem
Wunsche, daß die Anlagen dieses neuen Welt¬
bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬
ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬
ten fort, als wir zu Hause anlangten, und
erst nach einigen Tagen bemerkte man eine

Meine Schweſter gebahr einen Sohn,
die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte
ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick
des Kindes war er unglaublich heiter und
froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬
gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte
ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern.
Mit dem einen blickte er freudig vorwärts
in jene Regionen, in die er bald einzugehen
hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬
nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬
ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬
te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege
mich von dem Kinde zu unterhalten, von
ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem
Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬
bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬
ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬
ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und
erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0357" n="351"/>
            <p>Meine Schwe&#x017F;ter gebahr einen Sohn,<lb/>
die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte<lb/>
ihn nicht, zu ihr zu rei&#x017F;en. Beym Anblick<lb/>
des Kindes war er unglaublich heiter und<lb/>
froh, und bey der Taufe er&#x017F;chien er mir ge¬<lb/>
gen &#x017F;eine Art wie begei&#x017F;tert, ja ich möchte<lb/>
&#x017F;agen, als ein Genius mit zwey Ge&#x017F;ichtern.<lb/>
Mit dem einen blickte er freudig vorwärts<lb/>
in jene Regionen, in die er bald einzugehen<lb/>
hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬<lb/>
nungsvolle irdi&#x017F;che Leben, das in dem Kna¬<lb/>
ben ent&#x017F;prungen war, der von ihm ab&#x017F;tamm¬<lb/>
te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege<lb/>
mich von dem Kinde zu unterhalten, von<lb/>
&#x017F;einer Ge&#x017F;talt, &#x017F;einer Ge&#x017F;undheit, und dem<lb/>
Wun&#x017F;che, daß die Anlagen die&#x017F;es neuen Welt¬<lb/>
bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬<lb/>
ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬<lb/>
ten fort, als wir zu Hau&#x017F;e anlangten, und<lb/>
er&#x017F;t nach einigen Tagen bemerkte man eine<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[351/0357] Meine Schweſter gebahr einen Sohn, die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬ gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬ nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬ ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬ te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬ bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬ ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬ ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/357
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/357>, abgerufen am 25.04.2024.