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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Die älteste Tochter hatte meine ganze
Neigung gefesselt, und es mochte wohl da¬
her kommen, weil sie mir ähnlich sah, und
weil sie sich von allen vieren am meisten zu
mir hielt. Aber ich kann wohl sagen, je
genauer ich sie beobachtete, da sie heran
wuchs, desto mehr beschämte sie mich, und
ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬
rung, ja ich darf beynahe sagen, nicht ohne
Verehrung ansehn. Man sah nicht leicht
eine edlere Gestalt, ein ruhiger Gemüth und
eine immer gleiche, auf keinen Gegenstand
eingeschränkte, Thätigkeit. Sie war keinen
Augenblick ihres Lebens unbeschäftigt, und
jedes Geschäft ward unter ihren Händen zur
würdigen Handlung. Alles schien ihr gleich,
wenn sie nur das verrichten konnte, was in
der Zeit und am Platz war, und eben so
konnte sie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben,
wenn sich nichts zu thun fand. Diese Thä¬

Die älteſte Tochter hatte meine ganze
Neigung gefeſſelt, und es mochte wohl da¬
her kommen, weil ſie mir ähnlich ſah, und
weil ſie ſich von allen vieren am meiſten zu
mir hielt. Aber ich kann wohl ſagen, je
genauer ich ſie beobachtete, da ſie heran
wuchs, deſto mehr beſchämte ſie mich, und
ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬
rung, ja ich darf beynahe ſagen, nicht ohne
Verehrung anſehn. Man ſah nicht leicht
eine edlere Geſtalt, ein ruhiger Gemüth und
eine immer gleiche, auf keinen Gegenſtand
eingeſchränkte, Thätigkeit. Sie war keinen
Augenblick ihres Lebens unbeſchäftigt, und
jedes Geſchäft ward unter ihren Händen zur
würdigen Handlung. Alles ſchien ihr gleich,
wenn ſie nur das verrichten konnte, was in
der Zeit und am Platz war, und eben ſo
konnte ſie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben,
wenn ſich nichts zu thun fand. Dieſe Thä¬

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[363/0369] Die älteſte Tochter hatte meine ganze Neigung gefeſſelt, und es mochte wohl da¬ her kommen, weil ſie mir ähnlich ſah, und weil ſie ſich von allen vieren am meiſten zu mir hielt. Aber ich kann wohl ſagen, je genauer ich ſie beobachtete, da ſie heran wuchs, deſto mehr beſchämte ſie mich, und ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬ rung, ja ich darf beynahe ſagen, nicht ohne Verehrung anſehn. Man ſah nicht leicht eine edlere Geſtalt, ein ruhiger Gemüth und eine immer gleiche, auf keinen Gegenſtand eingeſchränkte, Thätigkeit. Sie war keinen Augenblick ihres Lebens unbeſchäftigt, und jedes Geſchäft ward unter ihren Händen zur würdigen Handlung. Alles ſchien ihr gleich, wenn ſie nur das verrichten konnte, was in der Zeit und am Platz war, und eben ſo konnte ſie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben, wenn ſich nichts zu thun fand. Dieſe Thä¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/369>, abgerufen am 29.03.2024.