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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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tigkeit ohne Bedürfniß einer Beschäftigung
habe ich in meinem Leben nicht wieder gese¬
hen. Unnachahmlich war von Jugend auf
ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬
bedürftige. Ich gestehe gern, daß ich nie¬
mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬
thätigkeit ein Geschäft zu machen; ich war
nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in
meinem Verhältnisse zu viel dahin, aber ge¬
wissermaßen kaufte ich mich nur los, und es
mußte mir jemand angebohren seyn, wenn
er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte.
Grade das Gegentheil lobe ich an meiner
Nichte. Ich habe sie niemals einem Armen
Geld geben sehen, und was sie von mir zu
diesem Endzweck erhielt, verwandelte sie im¬
mer erst in das nächste Bedürfniß. Nie¬
mals erschien sie mir liebenswürdiger, als
wenn sie meine Kleider- und Wäschschränke
plünderte; immer fand sie etwas, das ich

tigkeit ohne Bedürfniß einer Beſchäftigung
habe ich in meinem Leben nicht wieder geſe¬
hen. Unnachahmlich war von Jugend auf
ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬
bedürftige. Ich geſtehe gern, daß ich nie¬
mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬
thätigkeit ein Geſchäft zu machen; ich war
nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in
meinem Verhältniſſe zu viel dahin, aber ge¬
wiſſermaßen kaufte ich mich nur los, und es
mußte mir jemand angebohren ſeyn, wenn
er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte.
Grade das Gegentheil lobe ich an meiner
Nichte. Ich habe ſie niemals einem Armen
Geld geben ſehen, und was ſie von mir zu
dieſem Endzweck erhielt, verwandelte ſie im¬
mer erſt in das nächſte Bedürfniß. Nie¬
mals erſchien ſie mir liebenswürdiger, als
wenn ſie meine Kleider- und Wäſchſchränke
plünderte; immer fand ſie etwas, das ich

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[364/0370] tigkeit ohne Bedürfniß einer Beſchäftigung habe ich in meinem Leben nicht wieder geſe¬ hen. Unnachahmlich war von Jugend auf ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬ bedürftige. Ich geſtehe gern, daß ich nie¬ mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬ thätigkeit ein Geſchäft zu machen; ich war nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in meinem Verhältniſſe zu viel dahin, aber ge¬ wiſſermaßen kaufte ich mich nur los, und es mußte mir jemand angebohren ſeyn, wenn er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte. Grade das Gegentheil lobe ich an meiner Nichte. Ich habe ſie niemals einem Armen Geld geben ſehen, und was ſie von mir zu dieſem Endzweck erhielt, verwandelte ſie im¬ mer erſt in das nächſte Bedürfniß. Nie¬ mals erſchien ſie mir liebenswürdiger, als wenn ſie meine Kleider- und Wäſchſchränke plünderte; immer fand ſie etwas, das ich

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/370>, abgerufen am 23.04.2024.