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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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nicht trug und nicht brauchte, und diese al¬
ten Sachen zusammen zu schneiden und sie
irgend einem zerlumpten Kinde anzupassen,
war ihre größte Glückseligkeit.

Die Gesinnungen ihrer Schwester zeigten
sich schon anders, sie hatte vieles von der
Mutter, versprach schon frühe sehr zierlich
und reizend zu werden und scheint ihr Ver¬
sprechen halten zu wollen, sie ist sehr mit ih¬
rem Äußern beschäfftigt und wußte sich, von
früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende
Weise zu putzen und zu tragen. Ich erin¬
nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬
ken sie sich als ein kleines Kind im Spiegel
besah, als ich ihr die schönen Perlen, die
mir meine Mutter hinterlassen hatte, und
die sie von ungefähr bey mir fand, umbin¬
den mußte.

Wenn ich diese verschiedenen Neigungen
betrachtete, war es mir angenehm zu den¬

nicht trug und nicht brauchte, und dieſe al¬
ten Sachen zuſammen zu ſchneiden und ſie
irgend einem zerlumpten Kinde anzupaſſen,
war ihre größte Glückſeligkeit.

Die Geſinnungen ihrer Schweſter zeigten
ſich ſchon anders, ſie hatte vieles von der
Mutter, verſprach ſchon frühe ſehr zierlich
und reizend zu werden und ſcheint ihr Ver¬
ſprechen halten zu wollen, ſie iſt ſehr mit ih¬
rem Äußern beſchäfftigt und wußte ſich, von
früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende
Weiſe zu putzen und zu tragen. Ich erin¬
nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬
ken ſie ſich als ein kleines Kind im Spiegel
beſah, als ich ihr die ſchönen Perlen, die
mir meine Mutter hinterlaſſen hatte, und
die ſie von ungefähr bey mir fand, umbin¬
den mußte.

Wenn ich dieſe verſchiedenen Neigungen
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[365/0371] nicht trug und nicht brauchte, und dieſe al¬ ten Sachen zuſammen zu ſchneiden und ſie irgend einem zerlumpten Kinde anzupaſſen, war ihre größte Glückſeligkeit. Die Geſinnungen ihrer Schweſter zeigten ſich ſchon anders, ſie hatte vieles von der Mutter, verſprach ſchon frühe ſehr zierlich und reizend zu werden und ſcheint ihr Ver¬ ſprechen halten zu wollen, ſie iſt ſehr mit ih¬ rem Äußern beſchäfftigt und wußte ſich, von früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende Weiſe zu putzen und zu tragen. Ich erin¬ nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬ ken ſie ſich als ein kleines Kind im Spiegel beſah, als ich ihr die ſchönen Perlen, die mir meine Mutter hinterlaſſen hatte, und die ſie von ungefähr bey mir fand, umbin¬ den mußte. Wenn ich dieſe verſchiedenen Neigungen betrachtete, war es mir angenehm zu den¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/371>, abgerufen am 29.03.2024.