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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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sah. Er hatte die Rollen vorher collationirt,
daß also von dieser Seite kein Anstoß seyn
konnte. Die sämmtlichen Schauspieler wa¬
ren mit dem Stücke bekannt, und er suchte
sie nur, ehe sie anfingen, von der Wichtigkeit
einer Leseprobe zu überzeugen. Wie man
von jedem Musikus verlange, daß er, bis
auf einen gewissen Grad, vom Blatte spie¬
len könne, so solle auch jeder Schauspieler,
ja jeder wohlerzogene Mensch, sich üben vom
Blatte zu lesen, einem Drama, einem Ge¬
dicht, einer Erzählung sogleich ihren Cha¬
rakter abzugewinnen, und sie mit Fertigkeit
vorzutragen. Alles Memoriren helfe nichts,
wenn der Schauspieler nicht vorher in den
Geist und Sinn des guten Schriftstellers ein¬
gedrungen sey, der Buchstabe könne nichts
wirken.

Serlo versicherte, daß er jeder andern
Probe, ja der Hauptprobe nachsehen wolle,

ſah. Er hatte die Rollen vorher collationirt,
daß alſo von dieſer Seite kein Anſtoß ſeyn
konnte. Die ſämmtlichen Schauſpieler wa¬
ren mit dem Stücke bekannt, und er ſuchte
ſie nur, ehe ſie anfingen, von der Wichtigkeit
einer Leſeprobe zu überzeugen. Wie man
von jedem Muſikus verlange, daß er, bis
auf einen gewiſſen Grad, vom Blatte ſpie¬
len könne, ſo ſolle auch jeder Schauſpieler,
ja jeder wohlerzogene Menſch, ſich üben vom
Blatte zu leſen, einem Drama, einem Ge¬
dicht, einer Erzählung ſogleich ihren Cha¬
rakter abzugewinnen, und ſie mit Fertigkeit
vorzutragen. Alles Memoriren helfe nichts,
wenn der Schauſpieler nicht vorher in den
Geiſt und Sinn des guten Schriftſtellers ein¬
gedrungen ſey, der Buchſtabe könne nichts
wirken.

Serlo verſicherte, daß er jeder andern
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[78/0084] ſah. Er hatte die Rollen vorher collationirt, daß alſo von dieſer Seite kein Anſtoß ſeyn konnte. Die ſämmtlichen Schauſpieler wa¬ ren mit dem Stücke bekannt, und er ſuchte ſie nur, ehe ſie anfingen, von der Wichtigkeit einer Leſeprobe zu überzeugen. Wie man von jedem Muſikus verlange, daß er, bis auf einen gewiſſen Grad, vom Blatte ſpie¬ len könne, ſo ſolle auch jeder Schauſpieler, ja jeder wohlerzogene Menſch, ſich üben vom Blatte zu leſen, einem Drama, einem Ge¬ dicht, einer Erzählung ſogleich ihren Cha¬ rakter abzugewinnen, und ſie mit Fertigkeit vorzutragen. Alles Memoriren helfe nichts, wenn der Schauſpieler nicht vorher in den Geiſt und Sinn des guten Schriftſtellers ein¬ gedrungen ſey, der Buchſtabe könne nichts wirken. Serlo verſicherte, daß er jeder andern Probe, ja der Hauptprobe nachſehen wolle,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/84>, abgerufen am 25.04.2024.