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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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stirbt, noch länger leben möge. Die Fami¬
lie weint und beschwört den Arzt, der ihn
nicht halten kann: und so wenig als dieser
einer Natur-Nothwendigkeit zu widerstehen
vermag, so wenig können wir einer aner¬
kannten Kunstnothwendigkeit gebieten. Es
ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die
Menge, wenn man ihnen die Empfindungen
erregt, die sie haben wollen, und nicht die
sie haben sollen.

"Wer das Geld bringt, kann die Waare
nach seinem Sinne verlangen."

Gewissermaßen; aber ein großes Publi¬
kum verdient daß man es achte, daß man
es nicht wie Kinder, denen man das Geld
abnehmen will, behandle. Man bringe ihm
nach und nach durch das Gute -- Gefühl
und Geschmack für das Gute bey, und es
wird sein Geld mit doppeltem Vergnügen
einlegen, weil ihm der Verstand, ja die Ver¬

ſtirbt, noch länger leben möge. Die Fami¬
lie weint und beſchwört den Arzt, der ihn
nicht halten kann: und ſo wenig als dieſer
einer Natur-Nothwendigkeit zu widerſtehen
vermag, ſo wenig können wir einer aner¬
kannten Kunſtnothwendigkeit gebieten. Es
iſt eine falſche Nachgiebigkeit gegen die
Menge, wenn man ihnen die Empfindungen
erregt, die ſie haben wollen, und nicht die
ſie haben ſollen.

»Wer das Geld bringt, kann die Waare
nach ſeinem Sinne verlangen.»

Gewiſſermaßen; aber ein großes Publi¬
kum verdient daß man es achte, daß man
es nicht wie Kinder, denen man das Geld
abnehmen will, behandle. Man bringe ihm
nach und nach durch das Gute — Gefühl
und Geſchmack für das Gute bey, und es
wird ſein Geld mit doppeltem Vergnügen
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[93/0099] ſtirbt, noch länger leben möge. Die Fami¬ lie weint und beſchwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und ſo wenig als dieſer einer Natur-Nothwendigkeit zu widerſtehen vermag, ſo wenig können wir einer aner¬ kannten Kunſtnothwendigkeit gebieten. Es iſt eine falſche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die ſie haben wollen, und nicht die ſie haben ſollen. »Wer das Geld bringt, kann die Waare nach ſeinem Sinne verlangen.» Gewiſſermaßen; aber ein großes Publi¬ kum verdient daß man es achte, daß man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will, behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute — Gefühl und Geſchmack für das Gute bey, und es wird ſein Geld mit doppeltem Vergnügen einlegen, weil ihm der Verſtand, ja die Ver¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/99>, abgerufen am 28.03.2024.