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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Nachdem man Jarno's Neugierde befrie¬
diget hatte, fuhr der Arzt fort: nie habe
ich ein Gemüth in einer so sonderbaren Lage
gesehen. Seit vielen Jahren hat er an
nichts, was außer ihm war, den mindesten
Antheil genommen, ja fast auf nichts ge¬
merkt, blos in sich gekehrt, betrachtete er
sein hohles leeres Ich, das ihm als ein un¬
ermeßlicher Abgrund erschien. Wie rührend
war es, wenn er von diesem traurigen Zu¬
stande sprach! ich sehe nichts vor mir, nichts
hinter mir, rief er aus, als eine unendliche
Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten
Einsamkeit befinde, kein Gefühl bleibt mir
als das Gefühl einer Schuld, die doch auch
nur wie ein entferntes unförmliches Gespenst
sich rückwärts sehen läßt. Doch da ist keine
Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück,
kein Wort drückt diesen immer gleichen Zu¬
stand aus, manchmal ruf ich in der Noth

dieser

Nachdem man Jarno’s Neugierde befrie¬
diget hatte, fuhr der Arzt fort: nie habe
ich ein Gemüth in einer ſo ſonderbaren Lage
geſehen. Seit vielen Jahren hat er an
nichts, was außer ihm war, den mindeſten
Antheil genommen, ja faſt auf nichts ge¬
merkt, blos in ſich gekehrt, betrachtete er
ſein hohles leeres Ich, das ihm als ein un¬
ermeßlicher Abgrund erſchien. Wie rührend
war es, wenn er von dieſem traurigen Zu¬
ſtande ſprach! ich ſehe nichts vor mir, nichts
hinter mir, rief er aus, als eine unendliche
Nacht, in der ich mich in der ſchrecklichſten
Einſamkeit befinde, kein Gefühl bleibt mir
als das Gefühl einer Schuld, die doch auch
nur wie ein entferntes unförmliches Geſpenſt
ſich rückwärts ſehen läßt. Doch da iſt keine
Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück,
kein Wort drückt dieſen immer gleichen Zu¬
ſtand aus, manchmal ruf ich in der Noth

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[48/0052] Nachdem man Jarno’s Neugierde befrie¬ diget hatte, fuhr der Arzt fort: nie habe ich ein Gemüth in einer ſo ſonderbaren Lage geſehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den mindeſten Antheil genommen, ja faſt auf nichts ge¬ merkt, blos in ſich gekehrt, betrachtete er ſein hohles leeres Ich, das ihm als ein un¬ ermeßlicher Abgrund erſchien. Wie rührend war es, wenn er von dieſem traurigen Zu¬ ſtande ſprach! ich ſehe nichts vor mir, nichts hinter mir, rief er aus, als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der ſchrecklichſten Einſamkeit befinde, kein Gefühl bleibt mir als das Gefühl einer Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes unförmliches Geſpenſt ſich rückwärts ſehen läßt. Doch da iſt keine Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück, kein Wort drückt dieſen immer gleichen Zu¬ ſtand aus, manchmal ruf ich in der Noth dieſer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/52>, abgerufen am 29.04.2024.