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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Mutter sich um desto eher eine für andere viel¬
leicht unangenehme Erscheinung gefallen, als
es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo
Fremde nur zu genießen wünschen, oder we¬
nigstens nicht belästigt seyn wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weise
jedoch sollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬
reise getroffen werden, indem diese nicht sowohl
durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen,
als durch das was man daran lobenswürdig
hätte finden können, eine üble Nachrede hin¬
ter sich gelassen hatte. Luciane schien sich's
zum Gesetz gemacht zu haben, nicht allein
mit den Fröhlichen fröhlich, sondern auch mit
den Traurigen traurig zu seyn, und um den
Geist des Widerspruchs recht zu üben, manch¬
mal die Fröhlichen verdrießlich und die Trau¬
rigen heiter zu machen. In allen Familien
wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den Kran¬
ken und Schwachen, die nicht in Gesellschaft
erscheinen konnten. Sie besuchte sie auf ihren

Mutter ſich um deſto eher eine fuͤr andere viel¬
leicht unangenehme Erſcheinung gefallen, als
es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo
Fremde nur zu genießen wuͤnſchen, oder we¬
nigſtens nicht belaͤſtigt ſeyn wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weiſe
jedoch ſollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬
reiſe getroffen werden, indem dieſe nicht ſowohl
durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen,
als durch das was man daran lobenswuͤrdig
haͤtte finden koͤnnen, eine uͤble Nachrede hin¬
ter ſich gelaſſen hatte. Luciane ſchien ſich's
zum Geſetz gemacht zu haben, nicht allein
mit den Froͤhlichen froͤhlich, ſondern auch mit
den Traurigen traurig zu ſeyn, und um den
Geiſt des Widerſpruchs recht zu uͤben, manch¬
mal die Froͤhlichen verdrießlich und die Trau¬
rigen heiter zu machen. In allen Familien
wo ſie hinkam, erkundigte ſie ſich nach den Kran¬
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[106/0109] Mutter ſich um deſto eher eine fuͤr andere viel¬ leicht unangenehme Erſcheinung gefallen, als es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wuͤnſchen, oder we¬ nigſtens nicht belaͤſtigt ſeyn wollen. Auf eine eigne und unerwartete Weiſe jedoch ſollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬ reiſe getroffen werden, indem dieſe nicht ſowohl durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen, als durch das was man daran lobenswuͤrdig haͤtte finden koͤnnen, eine uͤble Nachrede hin¬ ter ſich gelaſſen hatte. Luciane ſchien ſich's zum Geſetz gemacht zu haben, nicht allein mit den Froͤhlichen froͤhlich, ſondern auch mit den Traurigen traurig zu ſeyn, und um den Geiſt des Widerſpruchs recht zu uͤben, manch¬ mal die Froͤhlichen verdrießlich und die Trau¬ rigen heiter zu machen. In allen Familien wo ſie hinkam, erkundigte ſie ſich nach den Kran¬ ken und Schwachen, die nicht in Geſellſchaft erſcheinen konnten. Sie beſuchte ſie auf ihren

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/109>, abgerufen am 28.03.2024.