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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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kaum gesagt, daß er auf der Wiese sich mit ein
Paar Gänsen herumjagte, als er hergesprungen
kam, und dem zweyten eine Haselgerte mitbrach-
te. Jch unterhielt mich weiter mit dem Weibe,
und erfuhr, daß sie des Schulmeisters Tochter sey,
und daß ihr Mann eine Reise in die Schweiz ge-
macht habe, um die Erbschaft eines Vettern zu ho-
len. Sie haben ihn drum betrügen wollen, sagte
sie, und ihm auf seine Briefe nicht geantwortet,
da ist er selbst hineingegangen. Wenn ihm nur
kein Unglük passirt ist, ich höre nichts von ihm.
Es ward mir schwer, mich von dem Weibe loszu-
machen, gab jeden: der Kinder einen Kreuzer, und
auch für's jüngste gab ich ihr einen, ihm einen
Wek mirzubringen zur Suppe, wenn sie in die
Stadt gieng, und so schieden wir von einander.

Jch sage dir, mein Schaz, wenn meine Sinnen
gar nicht mehr halten wollen, so linderts all den
Tumult, der Anblik eines solchen Geschöpfs, das
in der glüklichen Gelassenheit so den engen Kreis
seines Daseyns ausgeht, von einem Tag zum an-
dern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht, und
nichts dabey denkt, als daß der Winter kömmt.

Seit
B 5



kaum geſagt, daß er auf der Wieſe ſich mit ein
Paar Gaͤnſen herumjagte, als er hergeſprungen
kam, und dem zweyten eine Haſelgerte mitbrach-
te. Jch unterhielt mich weiter mit dem Weibe,
und erfuhr, daß ſie des Schulmeiſters Tochter ſey,
und daß ihr Mann eine Reiſe in die Schweiz ge-
macht habe, um die Erbſchaft eines Vettern zu ho-
len. Sie haben ihn drum betruͤgen wollen, ſagte
ſie, und ihm auf ſeine Briefe nicht geantwortet,
da iſt er ſelbſt hineingegangen. Wenn ihm nur
kein Ungluͤk paſſirt iſt, ich hoͤre nichts von ihm.
Es ward mir ſchwer, mich von dem Weibe loszu-
machen, gab jeden: der Kinder einen Kreuzer, und
auch fuͤr’s juͤngſte gab ich ihr einen, ihm einen
Wek mirzubringen zur Suppe, wenn ſie in die
Stadt gieng, und ſo ſchieden wir von einander.

Jch ſage dir, mein Schaz, wenn meine Sinnen
gar nicht mehr halten wollen, ſo linderts all den
Tumult, der Anblik eines ſolchen Geſchoͤpfs, das
in der gluͤklichen Gelaſſenheit ſo den engen Kreis
ſeines Daſeyns ausgeht, von einem Tag zum an-
dern ſich durchhilft, die Blaͤtter abfallen ſieht, und
nichts dabey denkt, als daß der Winter koͤmmt.

Seit
B 5
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[25/0025] kaum geſagt, daß er auf der Wieſe ſich mit ein Paar Gaͤnſen herumjagte, als er hergeſprungen kam, und dem zweyten eine Haſelgerte mitbrach- te. Jch unterhielt mich weiter mit dem Weibe, und erfuhr, daß ſie des Schulmeiſters Tochter ſey, und daß ihr Mann eine Reiſe in die Schweiz ge- macht habe, um die Erbſchaft eines Vettern zu ho- len. Sie haben ihn drum betruͤgen wollen, ſagte ſie, und ihm auf ſeine Briefe nicht geantwortet, da iſt er ſelbſt hineingegangen. Wenn ihm nur kein Ungluͤk paſſirt iſt, ich hoͤre nichts von ihm. Es ward mir ſchwer, mich von dem Weibe loszu- machen, gab jeden: der Kinder einen Kreuzer, und auch fuͤr’s juͤngſte gab ich ihr einen, ihm einen Wek mirzubringen zur Suppe, wenn ſie in die Stadt gieng, und ſo ſchieden wir von einander. Jch ſage dir, mein Schaz, wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten wollen, ſo linderts all den Tumult, der Anblik eines ſolchen Geſchoͤpfs, das in der gluͤklichen Gelaſſenheit ſo den engen Kreis ſeines Daſeyns ausgeht, von einem Tag zum an- dern ſich durchhilft, die Blaͤtter abfallen ſieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter koͤmmt. Seit B 5

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/25>, abgerufen am 29.03.2024.