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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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nun, mein Bester, sie, die unsers gleichen sind, die
wir als unsere Muster ansehen sollten; behandeln
wir als Unterthanen. Sie sollen keinen Willen
haben! -- Haben wir denn keinen? und wo
liegt das Vorrecht? -- Weil wir älter sind und
gescheuter? -- Guter Gott von deinem Himmel, alte
Kinder siehst du, und junge Kinder und nichts wei-
ter, und an welchen du mehr Freude hast, das hat
dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glau-
ben an ihn und hören ihn nicht, das ist auch was alt's,
und bilden ihre Kinder nach sich und -- Adieu,
Wilhelm, ich mag darüber nicht weiter radotiren.




Was Lotte einem Kranken seyn muß, fühl ich
an meinem eignen armen Herzen, das übler
dran ist als manches, das auf dem Siechbette
verschmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt
bey einer rechtschaffenen Frau zubringen, die sich
nach der Aussage der Aerzte ihrem Ende naht,
und in diesen lezten Augenblikken will sie Lotten
um sich haben. Jch war vorige Woche mit ihr

den



nun, mein Beſter, ſie, die unſers gleichen ſind, die
wir als unſere Muſter anſehen ſollten; behandeln
wir als Unterthanen. Sie ſollen keinen Willen
haben! — Haben wir denn keinen? und wo
liegt das Vorrecht? — Weil wir aͤlter ſind und
geſcheuter? — Guter Gott von deinem Himmel, alte
Kinder ſiehſt du, und junge Kinder und nichts wei-
ter, und an welchen du mehr Freude haſt, das hat
dein Sohn ſchon lange verkuͤndigt. Aber ſie glau-
ben an ihn und hoͤren ihn nicht, das iſt auch was alt’s,
und bilden ihre Kinder nach ſich und — Adieu,
Wilhelm, ich mag daruͤber nicht weiter radotiren.




Was Lotte einem Kranken ſeyn muß, fuͤhl ich
an meinem eignen armen Herzen, das uͤbler
dran iſt als manches, das auf dem Siechbette
verſchmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt
bey einer rechtſchaffenen Frau zubringen, die ſich
nach der Auſſage der Aerzte ihrem Ende naht,
und in dieſen lezten Augenblikken will ſie Lotten
um ſich haben. Jch war vorige Woche mit ihr

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[50/0050] nun, mein Beſter, ſie, die unſers gleichen ſind, die wir als unſere Muſter anſehen ſollten; behandeln wir als Unterthanen. Sie ſollen keinen Willen haben! — Haben wir denn keinen? und wo liegt das Vorrecht? — Weil wir aͤlter ſind und geſcheuter? — Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder ſiehſt du, und junge Kinder und nichts wei- ter, und an welchen du mehr Freude haſt, das hat dein Sohn ſchon lange verkuͤndigt. Aber ſie glau- ben an ihn und hoͤren ihn nicht, das iſt auch was alt’s, und bilden ihre Kinder nach ſich und — Adieu, Wilhelm, ich mag daruͤber nicht weiter radotiren. am 1. Juli. Was Lotte einem Kranken ſeyn muß, fuͤhl ich an meinem eignen armen Herzen, das uͤbler dran iſt als manches, das auf dem Siechbette verſchmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt bey einer rechtſchaffenen Frau zubringen, die ſich nach der Auſſage der Aerzte ihrem Ende naht, und in dieſen lezten Augenblikken will ſie Lotten um ſich haben. Jch war vorige Woche mit ihr den

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/50>, abgerufen am 29.03.2024.