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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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so ganz in dem Gefühl von ruhigem Daseyn ver-
sunken, daß meine Kunst darunter leidet. Jch
könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und
bin niemalen ein grösserer Mahler gewesen als in
diesen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um
mich dampft, und die hohe Sonne an der Ober-
fläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Wal-
des ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das
innere Heiligthum stehlen, und ich dann im hohen
Grase am fallenden Bache liege, und näher an
der Erde tausend mannigfaltige Gräsgen mir merk-
würdig werden. Wenn ich das Wimmeln der kleinen
Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründli-
chen Gestalten, als der Würmgen, der Mückgen, nä-
her an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart
des Allmächtigen, der uns all nach seinem Bilde
schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewi-
ger Wonne schwebend trägt und erhält. Mein
Freund, wenn's denn um meine Augen dämmert,
und die Welt um mich her und Himmel ganz in
meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Gelieb-
ten; dann sehn ich mich oft und denke: ach könn-
test du das wieder ausdrücken, könntest du dem

Papier
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ſo ganz in dem Gefuͤhl von ruhigem Daſeyn ver-
ſunken, daß meine Kunſt darunter leidet. Jch
koͤnnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und
bin niemalen ein groͤſſerer Mahler geweſen als in
dieſen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um
mich dampft, und die hohe Sonne an der Ober-
flaͤche der undurchdringlichen Finſterniß meines Wal-
des ruht, und nur einzelne Strahlen ſich in das
innere Heiligthum ſtehlen, und ich dann im hohen
Graſe am fallenden Bache liege, und naͤher an
der Erde tauſend mannigfaltige Graͤsgen mir merk-
wuͤrdig werden. Wenn ich das Wimmeln der kleinen
Welt zwiſchen Halmen, die unzaͤhligen, unergruͤndli-
chen Geſtalten, als der Wuͤrmgen, der Muͤckgen, naͤ-
her an meinem Herzen fuͤhle, und fuͤhle die Gegenwart
des Allmaͤchtigen, der uns all nach ſeinem Bilde
ſchuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewi-
ger Wonne ſchwebend traͤgt und erhaͤlt. Mein
Freund, wenn’s denn um meine Augen daͤmmert,
und die Welt um mich her und Himmel ganz in
meiner Seele ruht, wie die Geſtalt einer Gelieb-
ten; dann ſehn ich mich oft und denke: ach koͤnn-
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[9/0009] ſo ganz in dem Gefuͤhl von ruhigem Daſeyn ver- ſunken, daß meine Kunſt darunter leidet. Jch koͤnnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein groͤſſerer Mahler geweſen als in dieſen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Ober- flaͤche der undurchdringlichen Finſterniß meines Wal- des ruht, und nur einzelne Strahlen ſich in das innere Heiligthum ſtehlen, und ich dann im hohen Graſe am fallenden Bache liege, und naͤher an der Erde tauſend mannigfaltige Graͤsgen mir merk- wuͤrdig werden. Wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwiſchen Halmen, die unzaͤhligen, unergruͤndli- chen Geſtalten, als der Wuͤrmgen, der Muͤckgen, naͤ- her an meinem Herzen fuͤhle, und fuͤhle die Gegenwart des Allmaͤchtigen, der uns all nach ſeinem Bilde ſchuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewi- ger Wonne ſchwebend traͤgt und erhaͤlt. Mein Freund, wenn’s denn um meine Augen daͤmmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Geſtalt einer Gelieb- ten; dann ſehn ich mich oft und denke: ach koͤnn- teſt du das wieder ausdruͤcken, koͤnnteſt du dem Papier A 5

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/9>, abgerufen am 20.04.2024.