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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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erträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geiste,
der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn ich
sonst vom Fels über den Fluß bis zu jenen Hü-
geln das fruchtbare Thal überschaute, und alles
um mich her keimen und quellen sah, wenn ich jene
Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen,
dichten Bäumen bekleidet, all jene Thäler in ih-
ren mannichfaltigen Krümmungen von den lieb-
lichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluß
zwischen den lispelnden Rohren dahin gleitete, und
die lieben Wolken abspiegelte, die der sanfte Abend-
wind am Himmel herüber wiegte, wenn ich denn
die Vögel um mich, den Wald beleben hörte, und
die Millionen Mükkenschwärme im lezten rothen
Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter
zukkender Blik den summenden Käfer aus seinem
Grase befreyte und das Gewebere um mich her,
mich auf den Boden aufmerksam machte und das
Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung
abzwingt, und das Geniste, das den dürren Sand-
hügel hinunter wächst, mir alles das innere glü-
hende, heilige Leben der Natur eröfnete, wie um-

faßt



ertraͤglichen Peiniger, zu einem quaͤlenden Geiſte,
der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn ich
ſonſt vom Fels uͤber den Fluß bis zu jenen Huͤ-
geln das fruchtbare Thal uͤberſchaute, und alles
um mich her keimen und quellen ſah, wenn ich jene
Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen,
dichten Baͤumen bekleidet, all jene Thaͤler in ih-
ren mannichfaltigen Kruͤmmungen von den lieb-
lichſten Waͤldern beſchattet ſah, und der ſanfte Fluß
zwiſchen den liſpelnden Rohren dahin gleitete, und
die lieben Wolken abſpiegelte, die der ſanfte Abend-
wind am Himmel heruͤber wiegte, wenn ich denn
die Voͤgel um mich, den Wald beleben hoͤrte, und
die Millionen Muͤkkenſchwaͤrme im lezten rothen
Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter
zukkender Blik den ſummenden Kaͤfer aus ſeinem
Graſe befreyte und das Gewebere um mich her,
mich auf den Boden aufmerkſam machte und das
Moos, das meinem harten Felſen ſeine Nahrung
abzwingt, und das Geniſte, das den duͤrren Sand-
huͤgel hinunter waͤchſt, mir alles das innere gluͤ-
hende, heilige Leben der Natur eroͤfnete, wie um-

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[92/0092] ertraͤglichen Peiniger, zu einem quaͤlenden Geiſte, der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn ich ſonſt vom Fels uͤber den Fluß bis zu jenen Huͤ- geln das fruchtbare Thal uͤberſchaute, und alles um mich her keimen und quellen ſah, wenn ich jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Baͤumen bekleidet, all jene Thaͤler in ih- ren mannichfaltigen Kruͤmmungen von den lieb- lichſten Waͤldern beſchattet ſah, und der ſanfte Fluß zwiſchen den liſpelnden Rohren dahin gleitete, und die lieben Wolken abſpiegelte, die der ſanfte Abend- wind am Himmel heruͤber wiegte, wenn ich denn die Voͤgel um mich, den Wald beleben hoͤrte, und die Millionen Muͤkkenſchwaͤrme im lezten rothen Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter zukkender Blik den ſummenden Kaͤfer aus ſeinem Graſe befreyte und das Gewebere um mich her, mich auf den Boden aufmerkſam machte und das Moos, das meinem harten Felſen ſeine Nahrung abzwingt, und das Geniſte, das den duͤrren Sand- huͤgel hinunter waͤchſt, mir alles das innere gluͤ- hende, heilige Leben der Natur eroͤfnete, wie um- faßt

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/92>, abgerufen am 25.04.2024.