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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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er antwortete: nein! stellte sich an Pult zu schrei-
ben, und sie sezte sich nieder zu strikken. Eine
Stunde waren sie auf diese Weise neben einan-
der, und als Albert etlichemal in der Stube auf
und ab ging, und Lotte ihn anredete, er aber we-
nig oder nichts drauf gab und sich wieder an Pult
stellte, so verfiel sie in eine Wehmuth, die ihr um
desto ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen
und ihre Thränen zu verschlukken suchte.

Die Erscheinung von Werthers Knaben ver-
sezte sie in die gröste Verlegenheit, er überreichte
Alberten das Zettelgen, der sich ganz kalt nach
seiner Frau wendete, und sagte: gieb ihm die Pi-
stolen. -- Jch laß ihm glükliche Reise wünschen,
sagt er zum Jungen. Das fiel auf sie wie ein
Donnerschlag. Sie schwankte aufzustehn. Sie
wußte nicht wie ihr geschah. Langsam ging sie
nach der Wand, zitternd nahm sie sie herunter,
puzte den Staub ab und zauderte, und hätte noch
lang gezögert, wenn nicht Albert durch einen fra-
genden Blik: was denn das geben sollte? sie ge-
drängt hätte. Sie gab das unglükliche Gewehr
dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu kön-
nen, und als der zum Hause draus war, machte

sie
O 4



er antwortete: nein! ſtellte ſich an Pult zu ſchrei-
ben, und ſie ſezte ſich nieder zu ſtrikken. Eine
Stunde waren ſie auf dieſe Weiſe neben einan-
der, und als Albert etlichemal in der Stube auf
und ab ging, und Lotte ihn anredete, er aber we-
nig oder nichts drauf gab und ſich wieder an Pult
ſtellte, ſo verfiel ſie in eine Wehmuth, die ihr um
deſto aͤngſtlicher ward, als ſie ſolche zu verbergen
und ihre Thraͤnen zu verſchlukken ſuchte.

Die Erſcheinung von Werthers Knaben ver-
ſezte ſie in die groͤſte Verlegenheit, er uͤberreichte
Alberten das Zettelgen, der ſich ganz kalt nach
ſeiner Frau wendete, und ſagte: gieb ihm die Pi-
ſtolen. — Jch laß ihm gluͤkliche Reiſe wuͤnſchen,
ſagt er zum Jungen. Das fiel auf ſie wie ein
Donnerſchlag. Sie ſchwankte aufzuſtehn. Sie
wußte nicht wie ihr geſchah. Langſam ging ſie
nach der Wand, zitternd nahm ſie ſie herunter,
puzte den Staub ab und zauderte, und haͤtte noch
lang gezoͤgert, wenn nicht Albert durch einen fra-
genden Blik: was denn das geben ſollte? ſie ge-
draͤngt haͤtte. Sie gab das ungluͤkliche Gewehr
dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu koͤn-
nen, und als der zum Hauſe draus war, machte

ſie
O 4
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[215/0103] er antwortete: nein! ſtellte ſich an Pult zu ſchrei- ben, und ſie ſezte ſich nieder zu ſtrikken. Eine Stunde waren ſie auf dieſe Weiſe neben einan- der, und als Albert etlichemal in der Stube auf und ab ging, und Lotte ihn anredete, er aber we- nig oder nichts drauf gab und ſich wieder an Pult ſtellte, ſo verfiel ſie in eine Wehmuth, die ihr um deſto aͤngſtlicher ward, als ſie ſolche zu verbergen und ihre Thraͤnen zu verſchlukken ſuchte. Die Erſcheinung von Werthers Knaben ver- ſezte ſie in die groͤſte Verlegenheit, er uͤberreichte Alberten das Zettelgen, der ſich ganz kalt nach ſeiner Frau wendete, und ſagte: gieb ihm die Pi- ſtolen. — Jch laß ihm gluͤkliche Reiſe wuͤnſchen, ſagt er zum Jungen. Das fiel auf ſie wie ein Donnerſchlag. Sie ſchwankte aufzuſtehn. Sie wußte nicht wie ihr geſchah. Langſam ging ſie nach der Wand, zitternd nahm ſie ſie herunter, puzte den Staub ab und zauderte, und haͤtte noch lang gezoͤgert, wenn nicht Albert durch einen fra- genden Blik: was denn das geben ſollte? ſie ge- draͤngt haͤtte. Sie gab das ungluͤkliche Gewehr dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu koͤn- nen, und als der zum Hauſe draus war, machte ſie O 4

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/103>, abgerufen am 19.04.2024.