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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr Zimmer
in dem Zustand des unaussprechlichsten Leidens.
Jhr Herz weissagte ihr alle Schröknisse. Bald
war sie im Begriff sich zu den Füssen ihres Man-
nes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Ge-
schichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ih-
re Ahndungen. Dann sah sie wieder keinen Aus-
gang des Unternehmens, am wenigsten konnte sie
hoffen ihren Mann zu einem Gange nach Wer-
thern zu bereden. Der Tisch ward gedekt, und
eine gute Freundinn, die nur etwas zu fragen kam
und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhal-
tung bey Tische erträglich, man zwang sich, man
redete, man erzählte, man vergaß sich.

Der Knabe kam mit den Pistolen zu Wer-
thern, der sie ihm mit Entzükken abnahm, als er
hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er ließ sich
ein Brod und Wein bringen, hies den Knaben zu
Tisch gehn, und sezte sich nieder zu schreiben.



Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast
den Staub davon gepuzt, ich küsse sie tau-
sendmal, du hast sie berührt. Und du Geist des
Himmels begünstigst meinen Entschluß! Und du

Lotte



ſie ihre Arbeit zuſammen, ging in ihr Zimmer
in dem Zuſtand des unausſprechlichſten Leidens.
Jhr Herz weiſſagte ihr alle Schroͤkniſſe. Bald
war ſie im Begriff ſich zu den Fuͤſſen ihres Man-
nes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Ge-
ſchichte des geſtrigen Abends, ihre Schuld und ih-
re Ahndungen. Dann ſah ſie wieder keinen Aus-
gang des Unternehmens, am wenigſten konnte ſie
hoffen ihren Mann zu einem Gange nach Wer-
thern zu bereden. Der Tiſch ward gedekt, und
eine gute Freundinn, die nur etwas zu fragen kam
und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhal-
tung bey Tiſche ertraͤglich, man zwang ſich, man
redete, man erzaͤhlte, man vergaß ſich.

Der Knabe kam mit den Piſtolen zu Wer-
thern, der ſie ihm mit Entzuͤkken abnahm, als er
hoͤrte, Lotte habe ſie ihm gegeben. Er ließ ſich
ein Brod und Wein bringen, hies den Knaben zu
Tiſch gehn, und ſezte ſich nieder zu ſchreiben.



Sie ſind durch deine Haͤnde gegangen, du haſt
den Staub davon gepuzt, ich kuͤſſe ſie tau-
ſendmal, du haſt ſie beruͤhrt. Und du Geiſt des
Himmels beguͤnſtigſt meinen Entſchluß! Und du

Lotte
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[216/0104] ſie ihre Arbeit zuſammen, ging in ihr Zimmer in dem Zuſtand des unausſprechlichſten Leidens. Jhr Herz weiſſagte ihr alle Schroͤkniſſe. Bald war ſie im Begriff ſich zu den Fuͤſſen ihres Man- nes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Ge- ſchichte des geſtrigen Abends, ihre Schuld und ih- re Ahndungen. Dann ſah ſie wieder keinen Aus- gang des Unternehmens, am wenigſten konnte ſie hoffen ihren Mann zu einem Gange nach Wer- thern zu bereden. Der Tiſch ward gedekt, und eine gute Freundinn, die nur etwas zu fragen kam und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhal- tung bey Tiſche ertraͤglich, man zwang ſich, man redete, man erzaͤhlte, man vergaß ſich. Der Knabe kam mit den Piſtolen zu Wer- thern, der ſie ihm mit Entzuͤkken abnahm, als er hoͤrte, Lotte habe ſie ihm gegeben. Er ließ ſich ein Brod und Wein bringen, hies den Knaben zu Tiſch gehn, und ſezte ſich nieder zu ſchreiben. Sie ſind durch deine Haͤnde gegangen, du haſt den Staub davon gepuzt, ich kuͤſſe ſie tau- ſendmal, du haſt ſie beruͤhrt. Und du Geiſt des Himmels beguͤnſtigſt meinen Entſchluß! Und du Lotte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/104>, abgerufen am 28.03.2024.