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Gotthelf, Jeremias [d. i. Albert Bitzius]: Der Notar in der Falle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Wie oft des Tages sie jenen Tag von vornen bis hinten wieder durchlebte, bis Tante Spendvögtin im Hausgang erschien, wissen wir nicht. Aber wenn das Kind einen Weg bis zu einem bestimmten Punkte mehrere Male gemacht hat, so strebt es darüber hinaus, es nimmt ihns Wunder, wie es jenseits desselben aussehe; das liegt in der Natur. Das lag auch in Luisens Natur. Als sie einige Mal bis zur Spendvögtin gekommen war, so gleichsam das Gitter hinter dem Paradiese, nahm es sie Wunder, was hinter dem Gitter stehe, d. h. was geschehen wäre, wenn die Spendvögtin nicht gekommen wäre. Wie die Kinder thun, that Luise das Gitter nur ganz wenig, ganz leise auf, daß kaum das Näschen durchmochte, setzte schüchtern einen Fuß hinaus, den zweiten endlich auch, that einige Schritte, und wenn dieser Anfang einmal gemacht ist, weiß man wohl, wie es geht. Es geht Mädchen accurat, wie Mahomet seinen Arabern drohte, daß es ihnen ergehen werde, wenn sie sich unterstünden, Bilder zu machen. Diese Bilder, drohte er ihnen, würden als Schatten sie verfolgen, sich an ihre Fersen heften, Leben und Seele von ihnen fordern, ihnen nicht Ruhe lassen. Pflanzen nun Mädchen Bilder in ihre Herzen, absonderlich von Notarien oder selbst bloßen Subjecten, machen diese Bilder fest darin und beschauen sie alle Tage, so werden diese Bilder das Herz schwer plagen; das Herz aber, um der Plage los zu sein, will das Bild, welches es plagt, aus dem Herzen heraus vor Augen haben, lebendig und als sein eigen, so daß es dasselbe ansehen und behandeln darf nach Belieben. Das empfand die arme Luise, welche der Notar im Herzen alle Tage ärger plagte, daß es eine strenge Sache war. Es dünkte sie, wenn sie ihn nur sehen könnte, es würde ihr schon bessern, leichter im Herzen werden. Aber mit keinem Auge sah sie ihn, vernahm nichts von ihm, er war gleich einer himmlischen Erscheinung verschwunden. Ihre Freundin Julie war abwesend auf einer Hochzeitreise. Luise war ganz schwermüthig, mußte immer strenger an ihn denken, und wenn

Wie oft des Tages sie jenen Tag von vornen bis hinten wieder durchlebte, bis Tante Spendvögtin im Hausgang erschien, wissen wir nicht. Aber wenn das Kind einen Weg bis zu einem bestimmten Punkte mehrere Male gemacht hat, so strebt es darüber hinaus, es nimmt ihns Wunder, wie es jenseits desselben aussehe; das liegt in der Natur. Das lag auch in Luisens Natur. Als sie einige Mal bis zur Spendvögtin gekommen war, so gleichsam das Gitter hinter dem Paradiese, nahm es sie Wunder, was hinter dem Gitter stehe, d. h. was geschehen wäre, wenn die Spendvögtin nicht gekommen wäre. Wie die Kinder thun, that Luise das Gitter nur ganz wenig, ganz leise auf, daß kaum das Näschen durchmochte, setzte schüchtern einen Fuß hinaus, den zweiten endlich auch, that einige Schritte, und wenn dieser Anfang einmal gemacht ist, weiß man wohl, wie es geht. Es geht Mädchen accurat, wie Mahomet seinen Arabern drohte, daß es ihnen ergehen werde, wenn sie sich unterstünden, Bilder zu machen. Diese Bilder, drohte er ihnen, würden als Schatten sie verfolgen, sich an ihre Fersen heften, Leben und Seele von ihnen fordern, ihnen nicht Ruhe lassen. Pflanzen nun Mädchen Bilder in ihre Herzen, absonderlich von Notarien oder selbst bloßen Subjecten, machen diese Bilder fest darin und beschauen sie alle Tage, so werden diese Bilder das Herz schwer plagen; das Herz aber, um der Plage los zu sein, will das Bild, welches es plagt, aus dem Herzen heraus vor Augen haben, lebendig und als sein eigen, so daß es dasselbe ansehen und behandeln darf nach Belieben. Das empfand die arme Luise, welche der Notar im Herzen alle Tage ärger plagte, daß es eine strenge Sache war. Es dünkte sie, wenn sie ihn nur sehen könnte, es würde ihr schon bessern, leichter im Herzen werden. Aber mit keinem Auge sah sie ihn, vernahm nichts von ihm, er war gleich einer himmlischen Erscheinung verschwunden. Ihre Freundin Julie war abwesend auf einer Hochzeitreise. Luise war ganz schwermüthig, mußte immer strenger an ihn denken, und wenn

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[0027] Wie oft des Tages sie jenen Tag von vornen bis hinten wieder durchlebte, bis Tante Spendvögtin im Hausgang erschien, wissen wir nicht. Aber wenn das Kind einen Weg bis zu einem bestimmten Punkte mehrere Male gemacht hat, so strebt es darüber hinaus, es nimmt ihns Wunder, wie es jenseits desselben aussehe; das liegt in der Natur. Das lag auch in Luisens Natur. Als sie einige Mal bis zur Spendvögtin gekommen war, so gleichsam das Gitter hinter dem Paradiese, nahm es sie Wunder, was hinter dem Gitter stehe, d. h. was geschehen wäre, wenn die Spendvögtin nicht gekommen wäre. Wie die Kinder thun, that Luise das Gitter nur ganz wenig, ganz leise auf, daß kaum das Näschen durchmochte, setzte schüchtern einen Fuß hinaus, den zweiten endlich auch, that einige Schritte, und wenn dieser Anfang einmal gemacht ist, weiß man wohl, wie es geht. Es geht Mädchen accurat, wie Mahomet seinen Arabern drohte, daß es ihnen ergehen werde, wenn sie sich unterstünden, Bilder zu machen. Diese Bilder, drohte er ihnen, würden als Schatten sie verfolgen, sich an ihre Fersen heften, Leben und Seele von ihnen fordern, ihnen nicht Ruhe lassen. Pflanzen nun Mädchen Bilder in ihre Herzen, absonderlich von Notarien oder selbst bloßen Subjecten, machen diese Bilder fest darin und beschauen sie alle Tage, so werden diese Bilder das Herz schwer plagen; das Herz aber, um der Plage los zu sein, will das Bild, welches es plagt, aus dem Herzen heraus vor Augen haben, lebendig und als sein eigen, so daß es dasselbe ansehen und behandeln darf nach Belieben. Das empfand die arme Luise, welche der Notar im Herzen alle Tage ärger plagte, daß es eine strenge Sache war. Es dünkte sie, wenn sie ihn nur sehen könnte, es würde ihr schon bessern, leichter im Herzen werden. Aber mit keinem Auge sah sie ihn, vernahm nichts von ihm, er war gleich einer himmlischen Erscheinung verschwunden. Ihre Freundin Julie war abwesend auf einer Hochzeitreise. Luise war ganz schwermüthig, mußte immer strenger an ihn denken, und wenn

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T09:45:11Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T09:45:11Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Gotthelf, Jeremias [d. i. Albert Bitzius]: Der Notar in der Falle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gotthelf_notar_1910/27>, abgerufen am 28.03.2024.