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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Und wenn auch der Optimismus eines Leopold Schefer und das pgo_097.002
vielgepriesene Glück dieses dichterischen Polykrates nach der andern Seite pgo_097.003
hin als extrem gelten muß: so steht sie doch der echten dichterischen Weltanschauung pgo_097.004
näher, als jene Verzweiflung der Ohnmacht und Blasirtheit. pgo_097.005
Doch wird man uns entgegnen, daß der Genius und der Wahnsinn sich pgo_097.006
keineswegs fern sind; man wird uns auf Hölderlin und Lenau verweisen, pgo_097.007
auf andere geniale Menschen, einen Rousseau und Alfieri, die in pgo_097.008
einzelnen Lebensmomenten dicht an der Grenze des Wahnsinns standen. pgo_097.009
Jn der That zeigen sich Dichternaturen oft unverständig in den Beziehungen pgo_097.010
des wirklichen Lebens; die Ungeduld über seine störenden Berührungen pgo_097.011
kann sich bis zur Leidenschaftlichkeit steigern; das an die Anschauung pgo_097.012
der Jdeeen gewöhnte Auge verlernt leicht den Blick auf den Zusammenhang pgo_097.013
der endlichen Dinge. Schon Plato hat dies sehr schön ausgedrückt, pgo_097.014
indem er die irdische Welt mit einer Höhle von Schattenbildern vergleicht, pgo_097.015
in welcher sich ein Auge nicht zurechtfindet, das außerhalb der Höhle das pgo_097.016
Sonnenlicht und die wirklich seienden Dinge, die ewigen Jdeeen geschaut. pgo_097.017
Er sagt, daß kein echter Dichter ohne einen gewissen Wahnsinn sei, und pgo_097.018
auch Aristoteles stimmt ihm hierin bei*). Die Dichter selbst bekennen, pgo_097.019
daß ihr Aug' "in schönem Wahnsinn rollt." Jn der That ergeht sich der pgo_097.020
Dichter, wie der Wahnsinnige, in einer Kette von Phantasiebildern, die pgo_097.021
ein selbstständiges, der äußern Wirklichkeit entlegenes Leben haben. Auch pgo_097.022
der Dichter wird von seinen Phantasiebildern hingerissen, wie der Wahnsinnige pgo_097.023
-- aber bei jenem ist das Bewußtsein der freien Schöpfung lebendig, pgo_097.024
der wache über dem Spiele der Vorstellungen stehende Geist; dieser pgo_097.025
ist ganz in ihrem Taumel verloren und unterscheidet sich nicht mehr als pgo_097.026
Schöpfer von seinem Werke! Wo daher dies Band des Bewußtseins pgo_097.027
zerreißt: da kann leicht das Genie in Wahnsinn übergehen und seine pgo_097.028
glänzende Bildersprache im Reiche zusammenhangloser Einbildungen fortsetzen! pgo_097.029
Man wird die gestörte Harmonie reich begabter Geister bedauern, pgo_097.030
aber nie vergessen dürfen, daß die dichterische Manie von der des

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Nach Seneca de tranq. animi 15, 16: nullum magnum ingenium sine mixtura pgo_097.032
dementiae fuit. Vergl. auch hierüber die geistvollen Betrachtungen Schopenhauer's: pgo_097.033
Die Welt als Wille und Vorstellung. S. 274 u. flgde.

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Nach Seneca de tranq. animi 15, 16: nullum magnum ingenium sine mixtura pgo_097.032
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/119>, abgerufen am 29.03.2024.