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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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erwecken; aber die selbstständige Dichtkunst kann sich jene Formen nur pgo_105.002
vorübergehend aneignen, da dieselben überdies sich durch ihre naive Kindlichkeit pgo_105.003
gegen den modernen Jnhalt spröde zeigen.

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Das plastische Jdeal, das Jdeal des klassischen Alterthums, ist pgo_105.005
ebenfalls, wie das symbolische, der Ausdruck des ganzen Glaubens, pgo_105.006
Lebens und Empfindens jener Zeit. Jener klare Formensinn, der sich pgo_105.007
unter Hellas heiterem Himmel entfaltete, drückte auch den Werken der pgo_105.008
Dichtung sein Gepräge auf und zauberte alle Götter- und Menschenbilder pgo_105.009
mit klarsten Umrissen in einen durchsichtigen Aether der Phantasie. pgo_105.010
Dies Jdeal stellt die ungebrochene Jugend der Menschheit dar, die ohne pgo_105.011
Sehnsucht und Wehmuth und alle Störungen der Reflexion nur nach pgo_105.012
erreichbaren Zielen strebt! Die einfache Schönheit, die reine Jdealität pgo_105.013
der Form, mußte sich, wie in den Tempeln und Sculpturbildern, auch in pgo_105.014
den Dichtwerken abprägen! Einfach waren die Lebens- und Kulturformen, pgo_105.015
einfach die Conflicte -- voll und ganz, fest in sich begründet, pgo_105.016
trat der Mensch in's Leben und in's Gedicht! Doch eine sittliche Grazie pgo_105.017
der Behandlung umschwebte selbst das Rohe und Gewaltsame und milderte pgo_105.018
seine Grausamkeit. Jn dieser Klarheit der Form, Sicherheit der pgo_105.019
Zeichnung, in der ganzen künstlerischen Harmonie, in der maaß- und pgo_105.020
tactvollen Behandlung bleiben die großen Genien Griechenlands ewige pgo_105.021
Muster, der Quell, an dem auch die Muse der Gegenwart schöpfen muß, pgo_105.022
wenn sie sich die Jdealität der Jugend bewahren will! Auch das strengere pgo_105.023
Rom hat in Horaz und Ovid, Tibull und Properz und selbst in pgo_105.024
Virgil, der wohl der kleinste von diesen Dichtern ist, eine Reihe von pgo_105.025
Talenten, deren geistreicher Zug der Gegenwart verwandter ist, die aber pgo_105.026
daneben die antike Harmonie und das plastische Gepräge der Darstellung pgo_105.027
haben. Es ist kein Verbrechen für die Gegenwart, daß Properz sie pgo_105.028
begeistert, wie er Goethe entzückt, daß wir bei Latium und Hellas in die pgo_105.029
Schule gehen! Jene großen Züge plastischer Bestimmtheit, wie sie die pgo_105.030
antike Poesie aufweist, sind der Dichtkunst in keiner Epoche entbehrlich, pgo_105.031
aber die bloße Nachahmung der Antike entwürdigt die schöpferische Kraft pgo_105.032
der Neuzeit und hat selbst viele Werke unserer Klassiker in bloße gelehrte pgo_105.033
Studien verwandelt. Die Sehnsucht nach den "Göttern Griechenlands," pgo_105.034
die wie jede Sehnsucht romantisch ist und nicht hellenisch, der Seufzer pgo_105.035
Schiller's, der sich aus der deistischen Aufklärung heraus nach einer mit

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erwecken; aber die selbstständige Dichtkunst kann sich jene Formen nur pgo_105.002
vorübergehend aneignen, da dieselben überdies sich durch ihre naive Kindlichkeit pgo_105.003
gegen den modernen Jnhalt spröde zeigen.

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Das plastische Jdeal, das Jdeal des klassischen Alterthums, ist pgo_105.005
ebenfalls, wie das symbolische, der Ausdruck des ganzen Glaubens, pgo_105.006
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Sehnsucht und Wehmuth und alle Störungen der Reflexion nur nach pgo_105.012
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/127>, abgerufen am 28.03.2024.