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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Zurückbleibens der andern, Trennungen, die eine neue Vereinigung, pgo_127.002
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inneren Rhythmik des künstlerischen Organismus an, jener Musik, die der pgo_127.004
Genius in sich selbst trägt, und deren sanftwirkendes Gesetz er fast unmerklich pgo_127.005
durch seine Schöpfungen ausgießt. Den Zauber merkt man wohl, pgo_127.006
doch nicht, woher er kommt -- und nur der feingebildete Sinn kann sich pgo_127.007
Rechenschaft geben von den Ursachen der harmonischen Wirkung. Shakespeare pgo_127.008
war ein Meister dieser Rhythmik. Jndem er es liebt, einen pgo_127.009
Grundgedanken an mehrere Gruppen zu vertheilen, gewinnt er in pgo_127.010
seinen Dramen Raum für eine wechselnde Fort- und Gegenbewegung pgo_127.011
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Klarheit spiegelt. Vischer hat in seiner "Aesthetik" (Bd. 3. S. 45.) den pgo_127.014
rhythmischen Gang in "König Lear" mit gewohnter Feinfühligkeit nachgewiesen pgo_127.015
-- man könnte ihn ebenso im "Kaufmann von Venedig," in pgo_127.016
"Maaß für Maaß," auch in Schiller's "Maria Stuart" nachweisen. pgo_127.017
Jn der Lyrik zeichnen sich die Odendichter, besonders Pindar, durch eine pgo_127.018
kühne Rhythmik des Gedankens aus.

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dem Epos und Drama geben, da sie, verschieden in diesen Hauptgattungen, pgo_127.021
dort erst größere Bestimmtheit gewinnen. Dagegen müssen wir pgo_127.022
jetzt das Gewand, in welches die Dichtkunst sich hüllt, näher in's Auge pgo_127.023
fassen. Das Vehikel der dichtenden Phantasie ist die Sprache -- die pgo_127.024
dichterische Technik beruht wesentlich auf ihrer Behandlung. Nur der pgo_127.025
Genius giebt ihr das Gepräge, aber die Kenntniß des dichterischen Ausdrucks, pgo_127.026
der Figuren und Bilder, der Verskunst und des Reimes lehrt uns pgo_127.027
erst, seine gesetzgebende Macht würdigen, während sie auch für das eigene pgo_127.028
Schaffen eine bewußte und tiefere Gesetzmäßigkeit hervorruft.

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— man könnte ihn ebenso im „Kaufmann von Venedig,“ in pgo_127.016
„Maaß für Maaß,“ auch in Schiller's „Maria Stuart“ nachweisen. pgo_127.017
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dem Epos und Drama geben, da sie, verschieden in diesen Hauptgattungen, pgo_127.021
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[127/0149] pgo_127.001 Zurückbleibens der andern, Trennungen, die eine neue Vereinigung, pgo_127.002 Lösungen, die eine neue Spannung vorbereiten: das Alles gehört der pgo_127.003 inneren Rhythmik des künstlerischen Organismus an, jener Musik, die der pgo_127.004 Genius in sich selbst trägt, und deren sanftwirkendes Gesetz er fast unmerklich pgo_127.005 durch seine Schöpfungen ausgießt. Den Zauber merkt man wohl, pgo_127.006 doch nicht, woher er kommt — und nur der feingebildete Sinn kann sich pgo_127.007 Rechenschaft geben von den Ursachen der harmonischen Wirkung. Shakespeare pgo_127.008 war ein Meister dieser Rhythmik. Jndem er es liebt, einen pgo_127.009 Grundgedanken an mehrere Gruppen zu vertheilen, gewinnt er in pgo_127.010 seinen Dramen Raum für eine wechselnde Fort- und Gegenbewegung pgo_127.011 derselben, bis er die getrennten Flüsse der Handlung zu einem majestätischen pgo_127.012 Strom vereinigt, der die Jdee des schöpferischen Meisters in voller pgo_127.013 Klarheit spiegelt. Vischer hat in seiner „Aesthetik“ (Bd. 3. S. 45.) den pgo_127.014 rhythmischen Gang in „König Lear“ mit gewohnter Feinfühligkeit nachgewiesen pgo_127.015 — man könnte ihn ebenso im „Kaufmann von Venedig,“ in pgo_127.016 „Maaß für Maaß,“ auch in Schiller's „Maria Stuart“ nachweisen. pgo_127.017 Jn der Lyrik zeichnen sich die Odendichter, besonders Pindar, durch eine pgo_127.018 kühne Rhythmik des Gedankens aus. pgo_127.019 Eine nähere Darstellung der Kompositionsgesetze werden wir erst bei pgo_127.020 dem Epos und Drama geben, da sie, verschieden in diesen Hauptgattungen, pgo_127.021 dort erst größere Bestimmtheit gewinnen. Dagegen müssen wir pgo_127.022 jetzt das Gewand, in welches die Dichtkunst sich hüllt, näher in's Auge pgo_127.023 fassen. Das Vehikel der dichtenden Phantasie ist die Sprache — die pgo_127.024 dichterische Technik beruht wesentlich auf ihrer Behandlung. Nur der pgo_127.025 Genius giebt ihr das Gepräge, aber die Kenntniß des dichterischen Ausdrucks, pgo_127.026 der Figuren und Bilder, der Verskunst und des Reimes lehrt uns pgo_127.027 erst, seine gesetzgebende Macht würdigen, während sie auch für das eigene pgo_127.028 Schaffen eine bewußte und tiefere Gesetzmäßigkeit hervorruft.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/149>, abgerufen am 23.04.2024.